Tinnitus: Akzeptieren statt dagegen ankämpfen
Die Ohrgeräusche bei einem Tinnitus verschlimmern sich, je mehr man sich darauf konzentriert. Patienten gewöhnen sich am besten an den Dauerton, wenn sie verschiedene Therapien gleichzeitig machen.
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saldo 01/2013
23.01.2013
Andreas Grote
Der Zürcher Gitarrenlehrer Janos Szenogrady spielte viele Jahre in der Zürcher Rockband «The Bucks». Doch ein extrem schrilles Gequietsche aus dem Bühnenlautsprecher machte bei einem Aufritt dem Spass ein Ende. «Ich war nicht darauf gefasst. Es tat sehr weh im linken Ohr», berichtet der heute 54-Jährige. Der Gitarrist erlitt einen Hörsturz, war eine Stunde lang auf dem linken Ohr völlig taub. «Danach hörte ich einen hohen Ton, e...
Der Zürcher Gitarrenlehrer Janos Szenogrady spielte viele Jahre in der Zürcher Rockband «The Bucks». Doch ein extrem schrilles Gequietsche aus dem Bühnenlautsprecher machte bei einem Aufritt dem Spass ein Ende. «Ich war nicht darauf gefasst. Es tat sehr weh im linken Ohr», berichtet der heute 54-Jährige. Der Gitarrist erlitt einen Hörsturz, war eine Stunde lang auf dem linken Ohr völlig taub. «Danach hörte ich einen hohen Ton, ein Zischen, Brummen und Prasseln», sagt Szenogrady. Erst nach drei Tagen ging er zum Arzt. Der verschrieb ihm ein Medikament, das das Blut verdünnte. Doch das Ohrgeräusch blieb. Szenogrady litt anfangs stark darunter, konnte nachts nicht schlafen. Irgendwann akzeptierte er den Tinnitus. «Ich brauchte dafür drei Jahre, aber heute stört es mich nicht mehr, der Tinnitus ist ein Teil von mir.»
Vielen Patienten mit Tinnitus geht es wie Janos Szenogrady. Sie sind medizinisch ungenügend betreut und müssen sich irgendwie mit dem Tinnitus arrangieren. Fachleute vermuten, dass jeder zwölfte Schweizer ein chronisches Ohrgeräusch hat, ein ständiges Klingeln, Brummen, Sausen, Pfeifen oder Hämmern. Ursache können Belastungen mit Lärm sein oder ein Hörsturz, bei dem Patienten vorübergehend das Gehör verlieren. Je länger die Leidensphase dauert, desto mehr steigert sich der Patient in den Tinnitus hinein. Die psychischen Folgen sind dann oft schlimmer als der Tinnitus selbst.
Wer über den Tinnitus Bescheid weiss, kann besser damit umgehen
Vor allem Menschen mit Stress oder Depressionen und Angst nehmen den Tinnitus lauter wahr. Der ganze Alltag und die Arbeit leidet darunter. Hals-Nasen-Ohren-Arzt Andreas Schapowal von der Schweizer Tinnitus-Liga: «Unter vielen Ärzten herrscht Hilflosigkeit, wie sie mit Tinnitus umgehen sollen.» Das überträgt sich auf die Patienten: Viele Betroffene wandern von Arzt zu Arzt oder probieren wirkungslose Therapien aus.
Das müsste nicht sein. Immer mehr Studien weisen darauf hin, dass man auch chronischen Tinnituspatienten helfen kann. Bereits das Gespräch mit einem Tinnitusspezialisten kann heilsam sein. Wenn Patienten wissen, wie Tinnitus entsteht und wie man mit ihm den Alltag meistern kann, löst das Druck und Ängste. Häufig schwächt sich der Tinnitus darauf spontan ab – ohne Behandlung (siehe Tabelle).
Kombitherapie verbessert die Lebensqualität
Am besten schneiden Heilmethoden ab, die dem Patienten verschiedene Therapien anbieten. Vor kurzem hat eine holländische Studie im britischen Fachblatt «Lancet» für grosse Beachtung gesorgt. Darin untersuchten Forscher rund 500 Tinnitus-patienten. Die eine Hälfte erhielt über drei Monate eine Hörtherapie (auditorische Stimulation). Dabei kommen Geräte zum Einsatz, die Geräusche erzeugen und so den Tinnitus überspielen und das Ohrgeräusch ausblenden sollen.
Die andere Gruppe erhielt zusätzlich zur Stimulation eine Verhaltenstherapie. Dank dieser Kombination sollen sich Patienten besser entspannen und ihren Stress unter Kontrolle bringen können. Zudem lernen sie, sich auf den Tinnitus einzustellen. Bei dieser Therapie können auch Psychologen, Bewegungs- und Physiotherapeuten oder Sozialarbeiter zum Einsatz kommen.
Nach einem Jahr hatten sich die Symptome der Patienten mit der Kombitherapie deutlich mehr abgeschwächt als bei den Patienten, die nur eine Hörtherapie bekamen.
Für Berthold Langguth vom Tinnituszentrum der Universität Regensburg (D) sind die Studienergebnisse «sehr überzeugend». Entscheidend sei «die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdisziplinen». Auch Andreas Schapowal bestätigt: «Die Ergebnisse der Studie decken sich mit meiner langjährigen Erfahrung in der Tinnitustherapie.»
Bereits vor dieser Untersuchung hatte die Cochrane Collaboration, ein weltweites Netz von unabhängigen Wissenschaftern, der Verhaltenstherapie ihre wichtige Rolle in der Tinnitustherapie bescheinigt. Ihre Botschaft ist es, dem Betroffenen zu zeigen: Ich kann selbst etwas dagegen machen.
Auch Musiker Szenogrady machte diese Erfahrung: «Es hat keinen Sinn, sich gegen den Tinnitus zu wehren. Ich habe gelernt, dass man sich mit ihm verbünden muss.»
Damit rücken weniger erprobte Behandlungen in den Hintergrund. So verschreiben viele Ärzte Medikamente wie Antidepressiva oder Schlafmittel. Doch gibt es keinen Beleg, dass sie langfristig die Symptome des Tinnitus verdrängen können. Auch Nahrungsergänzungsmittel wie Zink oder Ginkgo haben keinen belegten Nutzen. Ebenso wenig ist erwiesen, dass Patienten mit Methoden zum Trainieren der Gehirnströme wie etwa Neurofeedback das Ohrgeräusch überwinden können.
Bei einem Hörsturz möglichst schnell einen Arzt aufsuchen
Wichtig ist, dass Patienten nach dem akuten Ereignis sofort einen kompetenten Arzt aufsuchen. Dann ist auch das Risiko am kleinsten, dass der Tinnitus chronisch wird. Schapowal sagt: «Fast immer geht dem Pfeifen ein Schaden am Innenohr voraus.» Das könne zum Beispiel laute Musik oder ein Knall sein, der die Sinneszellen schädigt. Und diesen Schaden kann man zumindest beschränkt bekämpfen.
Bei einem Hörsturz sollte man nicht länger als einen Tag mit dem Gang zum Arzt zuwarten. Er gibt Kortison und Medikamente, die die Durchblutung im Ohr begünstigen. Schapowal: «Damit kann man etwa 20 Prozent der Betroffenen akut helfen.» Auch Szenogrady bereut, dass er nicht sofort zum Arzt ging: «Vielleicht wäre der Tinnitus verschwunden.»
Bei den restlichen 80 Prozent erholen sich die geschädigten Sinneszellen jedoch nicht mehr, es bleibt ein chronisches Geräusch zurück. Szenogrady verwendet bei seinen Konzerten jetzt Gehörschutzpfropfen. Als Gitarrenlehrer klärt er auch Eltern und Schüler vor den Risiken auf: «Ich empfehle den Schülern immer, mit Gehörschutz zu spielen.»