Viele Ärzte raten bei der Diagnose Prostatakrebs rasch zu einer Operation, manchmal auch zu Medikamenten oder zu Bestrahlungen. Diese Therapien sollen den Tumor beseitigen oder zumindest dessen Wachstum bremsen.
Doch oft ist am besten, wenn man abwartet. Zu diesem Fazit kommt eine neue Langzeitstudie mehrerer australischer Universitäten mit über 1600 Männern («Fifteen year quality of life outcomes in men with localised prostate cancer», 2020). Fachleute sprechen von Abwarten und Beobachten. Dabei lassen sich Patienten nicht behandeln, sondern gehen lediglich regelmässig zur Kontrolle. So kann der Arzt frühzeitig erkennen, wenn sich der Tumor verändert.
Resultat: Nach 15 Jahren lebten noch fast so viele von ihnen wie Patienten, welche die Prostata entfernen liessen – nämlich 72 Prozent. Betroffene, die auf Therapien verzichteten, litten viel weniger unter Nebenwirkungen wie Erektionsstörungen oder Inkontinenz (siehe Tabelle im PDF). Sie hatten kaum Beschwerden und fühlten sich körperlich und seelisch fast so gut wie Männer ohne Krebs.
Bereits frühere Studien wiesen auf solche Resultate hin. Neu ist aber der Befund, dass auch Patienten unter 70 besser zuwarten sollten. Bis anhin glaubten Wissenschafter, dass bei dieser Gruppe Therapien besser helfen würden.
Über 80 Prozent waren nach Prostataoperation impotent
Es habe bisher keine so langfristige und sorgfältig gemachte Studie über Prostatakrebs gegeben wie die australische Untersuchung, sagt Etzel Gysling, Hausarzt in Wil SG und Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik». Und Johannes G. Schmidt, Arzt und Epidemiologe aus Einsiedeln SZ, sagt: «Die Studie zeigt, dass man bei Krebs nicht immer möglichst schnell und radikal eingreifen muss.» Gerade Prostatakrebs wachse oft langsam.
Die australische Studie zeigt weiter: Operative Eingriffe führten vermehrt zu Nebenwirkungen. Bei einer Operation entfernen Ärzte Prostata, Samenblase und Lymphknoten im Unterbauch. Über 80 Prozent der in der Studie erfassten Patienten waren danach impotent: Der Chirurg hatte bei der Operation Nervenstränge verletzt, welche die Erektion steuern. Sie verlaufen links und rechts der Prostata entlang. Wenn sich der Krebs noch nicht so weit ausgebreitet hat, lässt der Chirurg die Nervenstränge in Ruhe. Zudem verloren nach Prostataoperationen viele Patienten ungewollt Urin, denn die Operation kann den Schliessmuskel schwächen. Fazit der Studienautoren: «Männer, die radikal operiert wurden, waren nachher stark beeinträchtigt, insbesondere was die Sexualität betrifft.»
Ist der Tumor klein und auf die Prostata begrenzt, setzt die Medizin oft auf radioaktive Strahlen. Diese sollen die Krebszellen so stark schädigen, dass sie absterben. Ärzte bestrahlen den Tumor entweder von aussen durch die Haut oder mit kleinen radioaktiven Partikeln, die sie in der Prostata freisetzen. Vor allem das starke Bestrahlen reizt Gewebe und Organe um die Prostata und führt oft zu Durchfällen. Doch auch das schwache Bestrahlen ist nicht harmlos, wie die Studienautoren schreiben: «Im ersten Jahr nach der Therapie hatten diese Patienten von allen Gruppen die grössten Schwierigkeiten, den Urin zu halten.»
Medikamente kommen vor allem zum Einsatz, wenn der Krebs bereits anderes Gewebe befallen hat. Sie bremsen das körpereigene Testosteron, das das Tumorwachstum fördert. Auch diese Behandlung führt oft zu Erektionsproblemen. Patienten klagten zudem vermehrt über Darmbeschwerden.
Die Schweizerische Gesellschaft für Urologie schreibt saldo: Zuwarten und Kontrolle seien heute «fester Bestandteil» in der Praxis, wenn der Tumor nicht wuchere und anderes Gewebe befalle. Die Strategie sei vor allem für ältere Patienten geeignet oder bei Tumoren mit kleinem Risiko. Ist die Gefahr gross, dass der Patient am Tumor sterben könnte, empfiehlt die Gesellschaft für Urologie aber, die Patienten zu behandeln.