Ohne Rebellen keine direkte Demokratie
«Soziale Bewegungen» wie die Klima- oder Frauenbewegung sind für den Historiker Josef Lang die neuen Treiber der direkten Demokratie.
Inhalt
saldo 15/2020
22.09.2020
Remo Leupin
Die erste Corona-Welle war gerade übers Land geschwappt, als Josef Langs Buch «Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart» in die Läden kam. Covid-19-Notverordnung, Versammlungsverbot, Abbruch der Frühjahrssession: Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Bundesrat letztmals den Ausnahmezustand geltend machte (1939 bis 1952), wurde das direktdemokratische System nicht mehr so stark auf die Probe gestellt. Eine unverhoffte Aktuali...
Die erste Corona-Welle war gerade übers Land geschwappt, als Josef Langs Buch «Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart» in die Läden kam. Covid-19-Notverordnung, Versammlungsverbot, Abbruch der Frühjahrssession: Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Bundesrat letztmals den Ausnahmezustand geltend machte (1939 bis 1952), wurde das direktdemokratische System nicht mehr so stark auf die Probe gestellt. Eine unverhoffte Aktualität für das 330 Seiten umfassende historische Werk.
Anders, als es der Titel erwarten lässt, legt Lang keine trockene Verfassungs- und Institutionengeschichte vor. Der einstige Nationalrat der Grünen und Mitgründer der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee sieht in «sozialen Bewegungen» die Treiber der Demokratisierung. Eine Sternstunde der helvetischen Demokratie ist für Lang die Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874.
Der Weg zur «fortschrittlichsten Verfassung der Welt» war aber stets geprägt von Spannungen zwischen demokratischer Teilnahme und Ausgrenzung. So dauerte es noch bis 1971, bis Frauen in der Schweiz endlich abstimmen und wählen durften.
Brisant wird das Buch im Schlussteil, der die Zeit von 1992 bis 2020 behandelt. Es ist die Zeit des Aufstiegs der SVP und ihres – so Lang – sich abzeichnenden Niedergangs. Diesmal sind es die Klima- und die Frauenbewegung, die als demokratische Treiber agieren und die konservative SVP-Bastion ins Wanken bringen. An dieser Stelle streift der Autor den Mantel des Historikers definitiv ab und wird zum Politiker. Das ist geschichtswissenschaftlich heikel. Aber anregend zu lesen.
Josef Lang, «Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart», Hier und jetzt, Baden 2020