Die Diagnose war ein Schock: Im Herbst 2018 erfuhr Karl Riebli, dass er Lymphdrüsenkrebs hatte. Der Rentner aus Sachseln OW machte eine Chemotherapie. Es ging ihm besser. Doch im Mai 2020 war der Krebs zurück. Die Ärzte empfahlen eine neuartige CAR-T- Zell-Therapie, die Novartis unter dem Namen Kymriah vertreibt: Bei dem Verfahren entnehmen Ärzte den Patienten Abwehrzellen, programmieren sie um, sodass sie Krebszellen erkennen und attackieren können. 50 bis 60 Prozent der Patienten überleben dank dieser Therapie. «Wir hatten wieder Hoffnung», sagt Sohn Armin Riebli.
Krankenkasse lehnte Kostenübernahme ab
Der Patient wechselte ans Berner Inselspital. Die Experten sagten, die Therapie müsse schnell beginnen. Doch Riebli musste warten. Seine Krankenkasse, die Zürcher SLKK, brauchte vier Monate, um ein Gesuch zur Kostenübernahme zu beantworten – und abzulehnen. Sohn Armin Riebli sagt zu saldo: «Die Kasse setzte darauf, dass mein Vater stirbt, bevor sie zahlen muss.» «Blick» und NZZ machten den Fall publik. Letztere schrieb von «Verzögerungstaktik». Die SLKK begründet ihr Nein damit, dass die Therapie nicht wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sei. Doch der Bund nahm die Therapie ab 1. Januar 2020 in den Leistungskatalog der Kassen auf. Das heisst: Die Versicherung müsste die Kosten eigentlich übernehmen.
Novartis verlangt für eine einzige Infusion allerdings zwischen 200 000 und 350 000 Franken. Wie viel genau, wollen das Bundesamt für Gesundheit, der Krankenkassenverband Santésuisse und das Pharmaunternehmen geheim halten.
«Völlig intransparente Fantasiepreise»
Es folgt ein juristisches Hickhack. Am 4. Februar 2021 verpflichtet das Bundesgericht die SLKK, die Kosten der Therapie für Karl Riebli vorläufig zu übernehmen. Die Behandlung im Inselspital beginnt mit neunmonatiger Verspätung. Am 12. Februar 2021 verpflichtet das Obwaldner Verwaltungsgericht die SLKK, die Therapie definitiv zu bezahlen. Die Krankenkasse zieht das Urteil erneut vor das Bundesgericht. Dieses bestätigt es am 14. April. Zu spät: Der 82-jährige Riebli stirbt einen Tag vor dem Entscheid.
Der Fall des Rentners zeigt zwei Dinge: Zum einen foutierte sich die Krankenkasse SLKK rechtswidrig um ihre Zahlungspflichten. Zum anderen verkaufen Konzerne die neuen Krebsverfahren «zu völlig intransparenten Fantasiepreisen, die durch nichts gerechtfertigt sind», sagt der Präsident der Schweizer Krebsforschung Thomas Cerny.
Bei Kymriah stellt Novartis seine Profitinteressen klar über das Wohl der Patienten. Das zeigt eine schriftliche Stellungnahme von Novartis-Anwälten in einem laufenden Prozess vor dem Bundesverwaltungsgericht. saldo fordert in diesem Verfahren gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz die Offenlegung des Preises, den die Krankenkassen für Kymriah zahlen müssen.
In diesem Verfahren beharrt Novartis auf der Geheimhaltung des Preises. Die Anwälte machen geltend, dass eine Bekanntgabe des Preises für Novartis zu finanziellen Schäden führen würde. Die Konkurrenz könnte dann den Preis von Kymriah unterbieten, was den Umsatz von Novartis erheblich reduzieren würde. Der Pharmakonzern hat zudem Angst vor negativen Folgen von Auslandspreisvergleichen. Die nationalen Behörden von über einem Dutzend Ländern wie Kanada, Brasilien, Spanien, Russland oder Jordanien schauen sich an, was Medikamente in der Schweiz kosten. Erst dann setzen sie ihre Preise fest. Novartis fürchtet eine Kettenreaktion: Eine 40-prozentige Preisreduktion von Kymriah in der Schweiz würde Novartis gemäss den Anwälten weltweit 428 Millionen Franken Jahresumsatz kosten – inoffizielle Zahlen, die sich nicht überprüfen lassen.
Die Anwälte drohen für den Fall einer Offenlegung des Preises mit Konsequenzen für die Schweiz. Allfällige nötige Preissenkungen könnten dann dazu führen, dass neue Produkte «nicht mehr zur Verfügung gestellt werden können», heisst es in der Stellungnahme ans Gericht. Oder dass sich für «Schweizer Patienten der Zugang zu wesentlichen neuen Behandlungsoptionen» verzögere.
So profitierte Novartis von US-Steuergeldern
Novartiserfand die Kymriah-Therapie nicht selbst. Der Konzern kaufte die Rechte an der neuen CAR-T-Zell-Therapie im Jahr 2012 der US-Uni Pennsylvania ab – und profitierte somit von öffentlich finanzierter Forschung. Bis 2017 flossen rund 190 Millionen Franken an US-Steuergeldern in die CAR-Forschung, sagt die NGO Knowledge Ecology International. Der Beitrag von Novartis war eher klein: Novartis machte in den USA eine Studie mit 63 Teilnehmern. CAR-T-Erfinder Carl June schätzt die Kosten auf 9 Millionen Franken. Novartis spricht von Investionen von 900 Millionen.