Lebenslänglich gebrandmarkt
Inhalt
saldo 2/2000
02.02.2000
Nie werde ich diese Szene im Kinderspital vergessen. Ich machte mit einer Gruppe von Drittklässlern einen Krankenbesuch bei einem Schulkameraden. Das Zimmer des Jungen lag auf dem gleichen Stockwerk wie die der brandverletzten Kinder. Wir sassen alle in der Besucherecke auf dem Gang, als der Junge plötzlich ganz aufgeregt mit dem Finger auf eine Gestalt zeigte, die langsam auf uns zukam: "Seht, da ist sie wieder, die Mumie", flüsterte er. Eben hatten wir noch darüber gesprochen. Und jetzt st...
Nie werde ich diese Szene im Kinderspital vergessen. Ich machte mit einer Gruppe von Drittklässlern einen Krankenbesuch bei einem Schulkameraden. Das Zimmer des Jungen lag auf dem gleichen Stockwerk wie die der brandverletzten Kinder. Wir sassen alle in der Besucherecke auf dem Gang, als der Junge plötzlich ganz aufgeregt mit dem Finger auf eine Gestalt zeigte, die langsam auf uns zukam: "Seht, da ist sie wieder, die Mumie", flüsterte er. Eben hatten wir noch darüber gesprochen. Und jetzt starrten wir alle dieses Kind an. Es war von oben bis unten in Verbände eingewickelt, wahrhaftig eine wandelnde Mumie.
Hätten Sie, liebe Leserinnen und Leser, auch gestarrt? Kinder sind da sehr direkt. Und ich gehörte auch zu den Gaffern. Manchmal mag dieses Verhalten als verständliche Neugier durchgehen. Doch für die brandverletzten Menschen ist es auf Dauer sehr belastend. Am Blick des Gegenübers stets daran erinnert zu werden, dass die Haut nicht mehr so aussieht wie früher. Dass Narben das Aussehen entstellen.
Ist in dieser Situation überhaupt eine sinnvolle Reaktion möglich, die den anderen nicht verletzt?
Ich werde bei der nächsten Begegnung mit einer brandverletzten Person meine Hilflosigkeit eingestehen und
den Betroffenen ansprechen. So gibt es kein verschämtes Hin- oder Wegschauen, sondern vielleicht einige klärende Worte. Manchmal ist der direkte Weg der beste.
Marianne Erdin
Redaktorin und
Moderatorin Puls