Die 64-jährige Patientin humpelt unter sichtlicher Anstrengung am Morgen in den Berner Gerichtssaal. Auch sechs Jahre nach dem Eingriff schmerzt das operierte Knie noch. Immerhin kann sie ohne Stöcke gehen. Sie klagt gegen den Arzt. Zu ihrer Seite hat sie einen Zürcher Anwalt. Er wird von der Patientenrechtsschutz-Versicherung honoriert, die Teil der Zusatzversicherung ihrer Krankenkasse ist.
Auf der Gegenseite sitzt der eingeklagte Orthopäde mit rotem Kopf und macht sich fleissig Notizen. Neben ihm sitzt ein Vertreter seiner Berufshaftpflichtversicherung, die den Anwalt des Arztes bezahlt.
Der Anwalt der Frau begründet die Klage. Der Orthopäde habe seine Patientin nur ungenügend über die Risiken der Operation aufgeklärt. Und bei der Behandlung seien ihm Kunstfehler unterlaufen. Er fordert 200 000 Franken Schadenersatz, unter anderem für den Erwerbsausfall der Frau bis zur Pensionierung.
Der Anwalt des Orthopäden beantragt Abweisung der Klage. Die Klägerin, Sekretärin von Beruf, habe nicht beweisen können, dass ein solcher Schaden tatsächlich entstanden sei. Für einen ärztlichen Fehler gebe es weder Anhaltspunkte noch Beweise. Die Aufklärungspflicht sei erfüllt. Das zeige die Kopie einer Zeichnung des Eingriffs am Knie mit dem Vermerk «Über Risiken aufgeklärt». Die Zeichnung trage die Unterschrift der Patientin. Erst später im Verfahren zeigt sich, dass die Patientin diese Zeichnung nie unterschrieben hat. Ihre Signatur wurde offenbar mit dem Fotokopierer hinzugefügt.
Zeuge: «Diese Form der Operation habe ich noch nie gesehen»
Der Richter bittet einen Zeugen in den Saal. Es ist ein Orthopäde aus Zürich. Bei ihm lässt sich die Patientin behandeln, nachdem sich die Schmerzen am Knie trotz insgesamt drei Operationen beim Berner Arzt stetig verschlimmerten. Die Befragung blendet zurück auf den Anlass für die Operation. Durch eine O-Stellung der Beine nützte sich das Kniegelenk der damals 58-jährigen Frau einseitig ab, was zu Schmerzen führte. Der Berner Arzt führte eine Osteotomie durch. Bei diesem Operationsverfahren wird ein Keil aus dem Knochen gesägt, um die O-Stellung zu korrigieren und die Last besser zu verteilen.
Eine Osteotomie sei eine Variante, die bei dieser Ausgangslage sicher in Frage komme, sagt der Zeuge. Nach der ersten Operation seien aber Heilung und «Durchbau» ausgeblieben. Das heisst, der Knochen ist nicht mehr richtig zusammengewachsen. Mit zwei weiteren Operationen habe der Orthopäde versucht, das Problem zu lösen, ohne Erfolg. «Es gibt verschiedene Methoden, eine Osteotomie durchzuführen», konstatiert der Zürcher Fachmann. «Aber die hier durchgeführte Form habe ich noch nie gesehen.» Der Vertreter der Berufshaftpflichtversicherung trommelt mit seinem Kugelschreiber nervös ans Stuhlbein.
Am Nachmittag befragt der Richter den beklagten Arzt. Der verteidigt sein Vorgehen als «einzig valable Option». Auf die Frage, was denn am Vorgehen so speziell gewesen sei, dass sein Berufskollege so etwas «noch nie gesehen» habe, setzt er in belehrendem Ton zu einem endlos scheinenden Fachreferat an, das aber keine Klärung bringt.
Patientin: «Ich bin froh, dass ich gekämpft habe»
Der Richter hakt nach, eine Antwort erhält er nicht. Lieber erzählt der Orthopäde, wie er bei der zweiten Operation das Knochenmark ausbohrte, um einen Nagel in den Schienbeinkopf zu setzen. Oder bei der dritten eine Diamantschleifmaschine organisierte, um ein Stück Knochen aus dem Becken zu fräsen und am Schienbein einzusetzen.
Nach einer Verhandlungspause gibt der Richter den Beschluss bekannt, in Deutschland ein Gutachten einzuholen. Knapp drei Monate später liegt es vor. Es stützt die Position der Patientin, doch der Orthopäde und seine Versicherung wollen die Sache nicht aufgeben. Jahrelange Prozesse drohen. Um dies zu vermeiden, stimmt die Patientin einem Vergleich zu, der ihr eine Entschädigung von 130 000 Franken zuspricht. Damit kann sie ihre Auslagen und die Selbstbehalte der Folgeoperationen bezahlen. Ihr Fazit: «Ich bin froh, dass ich gekämpft habe.»
Prozessieren: Die Beweislast für Kunstfehler liegt beim Patienten
Ärzte können keinen Behandlungserfolg garantieren. Sie sind aber zur grösstmöglichen Sorgfalt verpflichtet. Das heisst: Sie haften für jede Verletzung der Sorgfaltspflicht. Misslingt eine Operation, ist es aber Sache des Patienten, dem Arzt nachzuweisen, dass er unsorgfältig handelte. Dieser Beweis ist meist nur durch das Gutachten eines Spezialisten zu erbringen. Die Gerichte beauftragen damit nicht selten Experten aus dem Ausland, weil Schweizer Fachärzte bei der Beurteilung eines Kollegen nicht immer unbefangen sind.
Gerichtsverfahren über allfällige ärztliche Kunstfehler sind komplex. Laien sollten sich unbedingt von einem im Arzthaftpflichtrecht erfahrenen Anwalt beraten lassen, bevor sie sich zu einer Klage entscheiden.
Mehr zum Thema finden Sie im saldo-Ratgeber «Die Rechte der Patienten», 4. Aufl. 2013. Zu bestellen auf Seite 34. Oder per Telefon 044 253 90 70.