Die Versicherung hat sich verrechnet
Das Leiden ist ernst – der Arzt hat es bestätigt. Doch die Taggeldversicherung zahlt plötzlich nichts mehr, obwohl die Leistungsdauer nicht erschöpft ist. Der Erkrankte wehrt sich bis vor Gericht.
Inhalt
saldo 15/2013
25.09.2013
Thomas Müller
Es scheint dem 36-Jährigen unangenehm zu sein, dass er vor Gericht um seine Krankentaggelder kämpfen muss. Unruhig rutscht er auf dem Stuhl hin und her. Ob nun sein Burnout im Gerichtssaal breitgetreten wird? Zum Glück erläutert der Anwalt an seiner Stelle den Grund für die Klage. Er beruft sich auf die Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Dort ist die Leistungsdauer für das Krankentaggeld mit zwei Jahren beziffert. Doch schon nach wenigen Monaten habe die Versi...
Es scheint dem 36-Jährigen unangenehm zu sein, dass er vor Gericht um seine Krankentaggelder kämpfen muss. Unruhig rutscht er auf dem Stuhl hin und her. Ob nun sein Burnout im Gerichtssaal breitgetreten wird? Zum Glück erläutert der Anwalt an seiner Stelle den Grund für die Klage. Er beruft sich auf die Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Dort ist die Leistungsdauer für das Krankentaggeld mit zwei Jahren beziffert. Doch schon nach wenigen Monaten habe die Versicherung nicht mehr gezahlt. Das sei unrechtmässig. Die Versicherung sei deshalb zur Nachzahlung von gut 60 000 Franken zu verurteilen.
Die Versicherung will davon nichts wissen und auch nicht zahlen. Wohl liege eine ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vor, sagt der Versicherungsanwalt. Doch diese habe mit der ursprünglichen Krankheit nichts zu tun. Es handle sich um eine neue Erkrankung und damit um einen neuen Fall. Und weil der 36-Jährige aus dem Betrieb ausgetreten ist, bestehe dafür kein Versicherungsschutz mehr.
Bei der Versicherungsgesellschaft und dem früheren Arbeitgeber handelt es sich um dasselbe Unternehmen. Der 36-Jährige war als Versicherungsvertreter tätig, als er erkrankte. Nach einigen Wochen Arbeitsunfähigkeit hatte er sich so weit erholt, dass er die Arbeit wieder aufnehmen konnte. Er habe den Wiedereinstieg recht gut hingekriegt, sagt er dem Gericht. Und er habe sich gefreut, dass ihn der Chef am Geburtstag ins Büro gerufen habe. Doch statt einer Aufmunterung und Kuchen erhielt er die Kündigung. Wegen seiner Krankheit habe er zu wenig geleistet.
Zum Schluss blieb dem Kläger nur noch der Gang zur Sozialhilfe
Nach dem Verlust des Arbeitsplatzes folgte ein Rückfall. Die Ärzte schrieben den Mann erneut krank. Als die Versicherung ihre Taggeldzahlungen einstellte, musste sich der ehemalige Versicherungsvertreter an die Sozialhilfe wenden.
In deren Auftrag erfolgte eine ärztliche Begutachtung. Dieser Bericht belege, dass es sich um dieselbe Krankheit handle, betont der Anwalt des Mannes. Doch die Gegenseite spricht von einem blossen Parteigutachten, das nicht einmal eindeutig sei. Erst wenn ein neues Gutachten von neutraler Seite den Nachweis erbringe, sei sie leistungspflichtig.
Die Glaubwürdigkeit der Versicherung ist in diesem Fall allerdings erschüttert. Denn pikanterweise waren die ausbezahlten Leistungen nicht korrekt abgerechnet. Der Versicherungsvertreter hatte nämlich eine zweistufige Krankentaggeldversicherung: Die erste deckte den Fixlohn, die Zusatzversicherung den durchschnittlichen monatlichen Betrag an Provisionen, die er für die verkauften Versicherungspolicen erhielt. Bei den Taggeldabrechnungen vergass die Versicherung die Zusatzversicherung für die Provisionen. Erst der Anwalt des 36-Jährigen entdeckte das Versäumnis. Schon vor der Gerichtsverhandlung hatte deshalb die Versicherung mehrere Tausend Franken nachbezahlt.
Einzelrichter rät den beiden Parteien zu einem Vergleich
Der Einzelrichter zieht eine kurze Zwischenbilanz, nachdem beide Seiten ihre Argumente vorgetragen haben. Es sei wohl tatsächlich ein neutrales Gutachten nötig, sagt er. Andererseits verzögere sich dadurch die Lösung des Problems um Monate, ganz zu schweigen von den zusätzlichen Kosten für die Begutachtung und weiteren Anwaltskosten für beide Seiten. Deshalb frage er die Parteien an, ob sie zu einem Vergleich bereit sind.
Beim Anwalt der Versicherung stösst der Vorschlag auf offene Ohren. Schon an der Schlichtungsverhandlung vor dem Prozess hatte er angeboten, 10 000 Franken zu bezahlen, um die Streitsache zu beenden. Der Anwalt des 36-Jährigen hatte dies als völlig ungenügend zurückgewiesen. Er wolle sich weiteren Gesprächen aber nicht verschliessen, signalisiert er.
Und so kann der Einzelrichter tatsächlich einen Kompromiss vermitteln. Nach mehreren Verhandlungsrunden hinter verschlossenen Türen steht der aussergerichtliche Vergleich. Über den Inhalt wollen beide Seiten jedoch nichts sagen.
Prozessieren: Nicht ohne meinen Anwalt
Wer mit der Leistung einer Versicherung nicht einverstanden ist oder einen Anspruch hat, den die Versicherung ablehnt, sollte für ein gerichtliches Verfahren einen Anwalt beiziehen. Denn die Versicherungen beschäftigen Dutzende von Juristen, die auf dieses Rechtsgebiet spezialisiert sind. Wer alleine und ohne Rechtskenntnis gegen Versicherungen prozessiert, ist deshalb auf verlorenem Posten.
Versicherungen arbeiten häufig mit Gutachten, die sie für teures Geld eingeholt haben. Diese Gutachten stützen in der Regel den Standpunkt der Versicherungen – sonst werden die Expertisen im Prozess verschwiegen. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, einen Anwalt beizuziehen: Er kann dem Gericht begründen, weshalb die Einholung eines neutralen Gutachtens durch das Gericht nötig ist.