Die Mär von den Vitaminen gegen Stress
Künstliche Vitamine und Mineralstoffe sollen Zellen vor Stress schützen – und den Menschen vor frühzeitigem Altern, Krebs und Herzkrankheiten. Diese Behauptung steht aber auf wackeligen Füssen.
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saldo 05/2013
20.03.2013
Andreas Grote
Stress hinterlässt im menschlichen Körper Spuren bis in die Zellen. Das schreibt das Unternehmen Antistress AG Burgerstein Vitamine aus Rapperswil-Jona SG auf seiner Website. Rauchen, Alkohol oder übermässige UV-Strahlen würden das Gleichgewicht in den Körperzellen stören und schädliche Moleküle bilden. Dieser «oxidative Stress», so Burgerstein, lasse den Alterungsprozess früher einsetzen und förde-re Krankheiten wie Krebs, Al...
Stress hinterlässt im menschlichen Körper Spuren bis in die Zellen. Das schreibt das Unternehmen Antistress AG Burgerstein Vitamine aus Rapperswil-Jona SG auf seiner Website. Rauchen, Alkohol oder übermässige UV-Strahlen würden das Gleichgewicht in den Körperzellen stören und schädliche Moleküle bilden. Dieser «oxidative Stress», so Burgerstein, lasse den Alterungsprozess früher einsetzen und förde-re Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder Herzinfarkt.
Dagegen gebe es Abhilfen, schreibt Burgerstein weiter: Antioxidantien. Dazu gehören die Vitamine A, C, E, Beta-karotin sowie Schutzstoffe aus Pflanzen wie etwa Polyphenole. Sie sollen die schädlichen Moleküle eliminieren. Burgerstein verkauft dazu ein Präparat: Anti-Ox. Es soll die «wichtigsten Antioxidantien» enthalten. Der Preis: 57 Franken für 100 Kapseln.
Ähnlich wirbt die deutsche Firma Abtei für Beta Carotin Hautschutzkapseln, die schädliche Verbindungen abfangen und die Hauterneuerung fördern sollen. Bei Coop kosten 25 Stück Fr. 6.40. Andere Läden verkaufen vergleichbare Produkte.
Vielen Kritikern ist dieses Geschäftsmodell ein Dorn im Auge. Das deutsche Fachblatt «Arznei-Telegramm» warf kürzlich den Verkäufern vor, sie würden mit «Schlagwörtern» um sich werfen, damit sie ihre Produkte absetzen können. Aber deren Nutzen sei nicht erwiesen. Auch der Präventivmediziner David Fäh vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin warnt: «Solche Produkte sind für die allermeisten Menschen nutzlos.»
Nicht nur nutzlos, sondern manchmal sogar schädlich
In der Tat konnten Studien den medizinischen Nutzen von Vitaminpillen nicht erhärten (saldo 17/11). Einige wiesen gar einen schädlichen Effekt nach:
- Patienten, die Vitamin E einnahmen, hatten ein erhöhtes Prostatakrebs- oder Hirnschlagrisiko,
- Raucher, die Betakarotin zu sich nahmen, bekamen häufiger Lungenkrebs,
- Krebspatienten sprachen schlechter auf eine Bestrahlung an, wenn sie gleichzeitig Antioxidantien in hohen Dosen einnahmen.
Auch das Konzept des oxidativen Stresses steht immer mehr in der Kritik. Eine kürzlich im Fachblatt «Nature Chemical Biology» publizierte Studie des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg verstärkt die Zweifel. Krebsforscher Tobias Dick hat mit seinem Team untersucht, was in den Zellen passiert: Diese stehen vermutlich gar nicht unter dem behaupteten massiven Stress. Bislang glaubte man, an bestimmten Werten den oxidativen Stress einer Zelle ablesen zu können. Die Forscher konnten nun zeigen, dass diese Werte in lebenden Zellen nicht erhöht sind.
In der Nahrung sind genügend gesunde Stoffe enthalten
In einer früheren Studie fütterten die Forscher Fruchtfliegen mit Antioxidantien. Überraschender Befund: Der oxidative Stress in den Zellen nahm deswegen nicht ab, sondern zu. Die Lebensdauer der Fruchtfliegen verlängerte sich auch nicht aufgrund der Antioxidantien.
Für Forschungsleiter Tobias Dick sind diese Entdeckungen weitere Indizien dafür, dass hochdosierte Vitamine und andere Antioxidantien gegen oxidativen Stress keinen nachweisbaren Nutzen haben. Zum einen käme, wenn überhaupt, nur ein Bruchteil davon in den Zellen an, so Dick. Und dort würden sie möglicherweise andere Reaktionen auslösen als gewollt. Die Zelle sei ein System, das perfekt arbeite. Dick: «Es ist einfältig anzunehmen, man könne dies durch Einschleusen einer Substanz verbessern.» Aufgrund dieser Befunde rät auch das «Arznei-Telegramm» davon ab, Vitaminpillen und andere Antioxidantien zu schlucken.
Zudem: Antioxidantien wie Vitamine, Polyphenole und Mineralien kommen in pflanzlicher Nahrung ausreichend vor. Fachleute empfehlen deshalb, Früchte, Gemüse und Salat zu essen und sich viel zu bewegen (siehe Kasten). Felix Jungi, Vorsitzender der Studiengruppe Komplementäre und Alternative Methoden bei der Krebsliga Schweiz kann dies unterschreiben: «Das dürfte sich im Hinblick auf Krebs und andere Krankheiten günstig auswirken.»
Burgerstein wollte sich gegenüber saldo zur Kritik nicht äussern. Abtei entgegnet, die Krebsforscher würden zu einer «vereinfachten Beurteilung» kommen und die Studie sei «nicht zielführend».
Tipps: So halten Sie sich gesund und fit
- Essen Sie drei bis fünf Portionen Gemüse, Salat oder Früchte pro Tag in verschiedenen Farben.
- Besonders viele Antioxidantien enthalten Blaubeeren, dunkle Schokolade, Nüsse, Kaffee und Grüntee.
- Verzichten Sie möglichst auf rotes Fleisch vom Rind, Schwein oder Lamm.
- Essen Sie zwei- bis dreimal Fisch pro Woche.
- Bewegen Sie sich 30 Minuten pro Tag.
Glossar
- Oxidativer Stress: Umweltstress wie Rauchen, Elektrosmog oder Chemikalien sollen schädliche Moleküle in den Zellen anhäufen.
- Freie Radikale: Schädliche Moleküle, die durch oxidativen Stress entstehen. Sollen Alterung beschleunigen und Krankheiten begünstigen.
- Antioxidantien: Vitamine (Betakarotin, Vitamine A, C, E), pflanzliche Schutzstoffe, Mineralien. Sollen freie Radikale vernichten und den Körper gesund halten.