Der böse Mann mit dem Hut
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saldo 1/2000
01.01.2000
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Das zeigen die Anzeigen der Arbeitsgemeinschaft gegen Missbrauch von Kindern.
Jetzt weiss ich endlich, warum Kevin Keller* immer den Blick senkt, wenn wir uns auf dem Trottoir entgegenkommen. Kevin und ich wohnen an der selben Strasse, so dass wir uns öfter begegnen. Kevin geht in den Kindergarten und ist ein aufgewecktes Bürschchen. Nach meinen Beobachtungen zu schliessen, ist er das kommende Alphakind in unserer Strasse.
Di...
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Das zeigen die Anzeigen der Arbeitsgemeinschaft gegen Missbrauch von Kindern.
Jetzt weiss ich endlich, warum Kevin Keller* immer den Blick senkt, wenn wir uns auf dem Trottoir entgegenkommen. Kevin und ich wohnen an der selben Strasse, so dass wir uns öfter begegnen. Kevin geht in den Kindergarten und ist ein aufgewecktes Bürschchen. Nach meinen Beobachtungen zu schliessen, ist er das kommende Alphakind in unserer Strasse.
Die Kellers sind vor gut drei Jahren hier eingezogen. Einmal schon haben wir uns seither unterhalten, Kevins Mutter und ich. Es geschah zufällig am Gartentürchen der Kellers, an dem ich auf dem Weg zur Tramhaltestelle vorbeiging, ohne etwas zu wollen. Das Gespräch war kurz, dennoch versprach ich mir viel davon.
Kevin war dabei gewesen. Jetzt würde es endlich anders werden. Er hatte zwar nichts gesagt und seine Mutter das Thema nicht angeschnitten. Aber ich war überzeugt, dass mir der Junge beim nächsten Mal in die Augen schauen würde, vielleicht sogar lächeln und "grüezi" sagen. Es hätte mich gefreut, ich finde Kevin ganz nett.
Überhaupt scheine ich zu Kindern einen guten Draht zu haben. Das zeigt sich etwa im Tram, weil ich meistens dort einsteige, wo die Mütter mit ihren Kinderwagen sind. Meistens "funkt" es sofort zwischen dem Baby und mir. Wir schauen uns in die Augen, ich lächle, das Kind lächelt auch und es freut mich.
Kevin hat nicht gelächelt. Es war am Tag nach der Begegnung mit Frau Keller. Ich sah ihn schon von weitem. Er sah mich auch, senkte sofort seinen Blick und beschleunigte sogar seine Schritte. "Ciao Kevin", wollte ich sagen, habe es mir im letzten Augenblick aber anders überlegt.
Was hat Kevin bloss? Oder ist es ein Generationsprob-lem? Sind alle Stadtkinder seines Alters so?
Ich begann, darauf zu achten, betrieb Feldforschung in der Umgebung des Kindergartens. Wann immer möglich, versuchte ich, Blickkon-takt aufzunehmen, und führte Buch. Das Verhältnis steht 7:1. Von acht Kindergärtnern hat nur eine einzige, die Tanja von schräg gegenüber, nicht weggeschaut. Aber sie zählt nicht, bei ihr zu Hause habe ich einmal ferienhalber die Katze gefüttert.
Allmählich dämmerte mir die schreckliche Wahrheit: Es lag nicht an den Kindern, es lag an mir. Es konnte gar nicht anders sein. Aber, verdammt noch mal, warum?
In einer Fernsehsendung über sexuell missbrauchte Kinder, ausgestrahlt in der Woche vor Schulbeginn, habe ich es erfahren. Kinder sollten strikt dazu angehalten werden, Fremden ja nicht erst in die Augen zu schauen, so könne jede gefährliche Situation vermieden werden. Die natürliche Neigung der meisten Kinder, auf Freundlichkeit mit Freundlichkeit zu antworten, sei eine grosse Gefahr und müsse zum Schutz des Kindes unterbunden werden, sagte die Pädagogin.
Das war es also: Für Kevin war ich ein Kinderschänder. Ich! Ich war entsetzt, beleidigt, wütend, zutiefst verletzt, und ich fragte mich: "Warum ausgerechnet ich?"
Jetzt weiss ich es. Die Anzeige in der Weihnachtsausgabe der "Weltwoche" hat mich aufgeklärt. Das blaue Hinweisschild "Fussweg", ein Mann mit Hut und einem kleinen Mädchen an der Hand. Drei Zeilen Text: "In der Schweiz werden jährlich 50 000 Kinder sexuell misshandelt und auch durch Pornographie und Prostitution ausgebeutet." Der Absender: Arge Kipro/Ecpat Switzerland (Arbeitsgemeinschaft ge-gen die kommerzielle Ausbeutung von Kindern). Und Efeugebüsch, dort, wo nach dem Klischee böse fremde Männer ... Während in Wahrheit Väter, Onkel, Brüder, Lehrer ... - Ich bin Hutträger.
Erich Liebi
Publizist
*Der Name ist frei erfunden.