Unter Kipppunkten versteht man nega­tive Entwicklungen, die sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr aufhalten lassen. Der deutsche Neurowissenschafter Joachim Bauer sieht einen solchen Punkt im Umgang mit digitalen Geräten schon heute erreicht. Solange Computer und Smartphones Werkzeuge bleiben und die ­Benutzer nicht zu ihrem Werkzeug werden, könne die Digitalisierung unser Leben erleichtern.

Doch die digitalen Geräte hätten begonnen, das Leben der Menschen in Besitz zu nehmen. Apps auf Handys bestimmen, wann man was zu sehen bekommt und wann man mit wem kommuniziert. Mit dem Siegeszug der sogenannten künstlichen Intelligenz könne der Kipppunkt überschritten werden, warnt der Autor. Denn die digitalen Krücken «helfen gesunden Menschen beim Gehen, bis sie nicht mehr gehen können» und unterstützen beim Denken, «bis wir nicht mehr denken können».

«Schwachen» Körper digital ersetzen

Hart ins Gericht geht Bauer mit den «Heils- ­versprechen der Transhumanisten», ­einer techno-ideologischen Bewegung, zu deren Anhängern ­einige der einflussreichsten ­Leute der Erde gehören. «Akteure aus den Top­etagen der Tech-Konzerne beschreiben die reale Welt als angeblich unrettbar verloren», schreibt der Autor.

Philosophen wie der­ Australier David Chalmers oder IT-Unternehmer wie Elon Musk und Google-Techno­logie­chef Ray Kurzweil würden den mensch­lichen ­Körper als fehlerhafte Maschine be­schreiben, den man bald ­digital ersetzen könne.

Bauer vergleicht solche digitalen Mythen mit den kirchlichen Jenseitsmythologien des Mittelalters: «Damals wie heute werden vir­tuelle Alternativen zu einer zunehmend unerträglichen Realität verkauft.» Für Bauer ein Rückfall «hinter wesentliche Er­run­gen­schaf­ten, die wir der Aufklärung v­er­danken»: Freiheit, Selbst­be­stim­­mung und Ver­trau­en in die menschliche Vernunft.

Joachim Bauer, «Realitätsverlust», 235 Seiten, Heyne 2023, ca. 35 Franken