Das erste Handy mit Internetfunktionen kam erst vor 16 Jahren auf den Markt: das iPhone von Apple. Trotzdem fühlt es sich heute an, als gäbe es Smartphones schon ewig. Solche «Rückschaufehler sind fest in den menschlichen Denkapparat ein­gebaut», schreibt der deutsche Psychologe Christian Stöcker. Doch das ist nicht das ­einzige Handicap, das der Mensch bei der Wahrnehmung von Veränderungen hat.

Wirtschaftswachstum, Digita­lisi­erung, Klimawandel und Arten­sterben hätten eines gemeinsam, so Stöcker: «Sie sind Phänomene des exponen­tiellen Wachstums, und der Mensch ist sensationell schlecht darin, solche Entwicklungen kognitiv zu erfassen.»

In einem Experiment mit dem Leser macht der Autor diese Schwäche augenscheinlich: Zwei Personen machen 30 Schritte. Die eine geht normal, die andere macht exponentielle Schritte: Jeder Schritt ist doppelt so lang wie der vorherige. Wer kommt wie weit? Resultat: Während die eine Person weniger als 30 Meter zurücklegt, umrundet die andere den ­Erdball fast 30-mal.

Beschleunigung als Chance

Anhand einiger Beispiele zeigt der Autor auf, wie sich die technologischen und öko­logischen Entwicklungen seit 100 Jahren gefährlich beschleunigt haben und selbst­ler­nende Computerprogramme die Führung in vielen Bereichen übernehmen.

Doch Stöcker ist kein Apokalyptiker. Er ­beleuchtet auch die Verbesserungen, die die Beschleunigung brachte: steigende Le­bens­­erwartung, mehr Bildung, bessere medizinische Versorgung. Und er blickt zuversichtlich in die Zukunft. Denn exponentiell gewachsen sind nicht nur die Gefahren, sondern auch die Möglichkeiten, fehlgeleitete Entwicklungen zu korrigieren – etwa im Energiebereich. «Allein zwischen 2010 und 2017 hat sich die Leistung, die mit Solarzellen erzeugt wird, verzehnfacht», schreibt Stöcker. «Einige positive Exponen­tialfunk­­­tio­nen nehmen gerade Fahrt auf.»

Christian Stöcker, «Die Grosse Beschleunigung», Pantheon, München 2022, 384 Seiten, zirka 26 Franken