Zementwerke: Umweltsünder mit Sonderbewilligung
Wegen einer Sonderregelung dürfen Zementwerke zehn Mal mehr Stickoxide ausstossen als Kehrichtverbrennungsanlagen.
Inhalt
saldo 04/2012
25.02.2012
Letzte Aktualisierung:
28.02.2012
Eric Breitinger
Die sechs Schweizer Zementwerke sind eine grosse Belastung für Umwelt und Gesundheit. Zusammen verantworten sie je fast 5 Prozent aller Stickoxid- und Staubemissionen. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Umwelt. Zum Vergleich: Der Strassenverkehr verursacht 52 Prozent der Stickoxid- und 19 Prozent der Staubemissionen.
Seit 26 Jahren eine Sonderregelung für Zementwerke
Die grosse Luftverschmutzung d...
Die sechs Schweizer Zementwerke sind eine grosse Belastung für Umwelt und Gesundheit. Zusammen verantworten sie je fast 5 Prozent aller Stickoxid- und Staubemissionen. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Umwelt. Zum Vergleich: Der Strassenverkehr verursacht 52 Prozent der Stickoxid- und 19 Prozent der Staubemissionen.
Seit 26 Jahren eine Sonderregelung für Zementwerke
Die grosse Luftverschmutzung durch die Zementindustrie macht eine Sonderregelung in der Luftreinhalteverordnung möglich – und das seit 26 Jahren. Zementwerke dürfen demnach bis zu 800 Milligramm Stickoxide und 500 Milligramm Schwefeldioxid pro Kubikmeter Abluft ausstossen – zehn Mal mehr als die Kehrichtverbrennungsanlagen (KVA). Zudem dürfen Zementwerke gegenüber den KVA die sechsfache Menge an Ammoniak und Ammoniakverbindungen und 20 statt 10 Milligramm Staub pro Kubikmeter Luft abgeben.
Das Bundesamt für Umwelt wollte die Grenzwerte bereits vor Jahren verschärfen. Doch Cemsuisse – der Verband der Zementhersteller – versprach in einer freiwilligen Branchenvereinbarung bloss, ab 2006 den Stickoxidausstoss auf 500 Milligramm pro Kubikmeter zu begrenzen. Laut eigenen Angaben erreichten sie das.
Der Basler Altlastenexperte Martin Forter fordert nun «gleiche Grenzwerte für Zementwerke und Kehrichtverbrennungsanlagen». Die strengere Limite für die Zementbranche sei nötig zum Schutz von Mensch und Umwelt. Forter hält die Umsetzung für möglich. KVA verbrennen teils heiklere Stoffe als Zementwerke, halten aber in der Regel die strengen Limiten ein.
Auch die grüne Nationalrätin Franziska Teuscher verlangt eine Überprüfung: «Die Sonderregelung für Zementwerke ist überholt und unbegründet.»
Laut Cemsuisse-Direktor Georges Spicher lasse die «Verschiedenheit der technischen Verfahren in Zementwerken und KVA keine Vergleichbarkeit von Emissionen und Grenzwerten» zu. Zudem entsprächen Schweizer Zementwerke dem «Stand der Technik». Laut Kennern ist aber bereits eine neue Generation von Reinigungsanlagen für Zementwerke verfügbar, etwa die sogenannten SCR-Katalysatoren. Die Betreiber bauen diese aber bisher nicht ein.
Holcim und Ämter geben keine konkreten Schadstoffwerte heraus
Noch ist nicht einmal klar, ob die realen Schadstoff-emissionen eine Gefährdung für die Anwohner sind. saldo hat sich Ende 2010 beim Betreiber Holcim und der Aargauer Umweltbehörde nach den exakten Tagesemissionen des Zementwerks Siggenthal erkundigt.
Das Amt antwortete, dass die Grenzwerte «in aller Regel anstandslos eingehalten sind». Es weigerte sich aber, konkrete Zahlen herauszugeben. Angaben fänden sich auf der Holcim-Website. Laut dem dortigen Bericht stiess das Zementwerk Siggenthal in den Jahren 2008 und 2010 je 499 Milligramm Stickoxide pro Kubikmeter Abluft aus, 2009 waren es 497 Milligramm – blieb also stets knapp unter dem freiwilligen Grenzwert. Bei den Zahlen handelt es sich allerdings nur um jährliche Mittelwerte.
Holcim hält die täglichen Emissionsdaten auch heute unter Verschluss. Der Konzern erklärt, jedes seiner Zementwerke halte die Bestimmungen ein. Man melde die Ergebnisse der Messungen an die Behörden. Deren Aufgabe sei es, als «legitimierte Vertreter der Öffentlichkeit» die Emissionen und die Einhaltung der Grenzwerte zu überprüfen.
Experten fordern eine Offenlegung der exakten Emissionen
Thomas Rothe, Chefarzt für Innere Medizin und Pneumologie der Zürcher Höhenklinik Davos, fordert die Offenlegung: «Man muss die Spitzenwerte an Tagen ohne Wind und mit Inversion kennen, um die Konsequenzen für Gesundheit und Umwelt beurteilen zu können.» Auch ein Emissionsexperte und langjähriger Mitarbeiter der Zementindustrie bezeichnet es gegenüber saldo als eine «Sauerei», dass die Werte nicht bekannt sind. Gerade potenziell bedrohte Anwohner sollten sich informieren können.
Anwohner in Deutschland haben es besser. Der dortige Verband der Zementwerke publiziert im Jahresbericht regelmässig die Tagesmittelwerte einzelner Werke. Ein Zementwerk bei Hannover macht sogar halbstündlich aktualisierte Emissions-werte auf einer Tafel am Eingang publik.