Von der Illusion, dabei zu sein
Liveticker im Internet eignen sich höchstens für aktuelle Sportberichterstattung. Trotzdem werden sie häufig auch für Medienkonferenzen, ja sogar für Gerichtsverhandlungen oder die Vorstellung neuer Bücher verwendet.
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saldo 11/2013
09.06.2013
Rolf Hürzeler
Gruseln pur. «10:27: Während des Verhörs gab Dubois zu, Marie mit Gewalt gezwungen zu haben, in sein Auto zu steigen. Er sagte nichts zum Verbleib der Leiche. 10:28: In der Nacht um 3 Uhr hätten Polizisten die Leiche einer jungen Frau in einem Waldstück in der Nähe von Romont FR gefunden. Es ist davon auszugehen, dass es sich um Marie handelt.»
Das sind Auszüge des Livetickers auf dem Internetportal des «Blick». Es ber...
Gruseln pur. «10:27: Während des Verhörs gab Dubois zu, Marie mit Gewalt gezwungen zu haben, in sein Auto zu steigen. Er sagte nichts zum Verbleib der Leiche. 10:28: In der Nacht um 3 Uhr hätten Polizisten die Leiche einer jungen Frau in einem Waldstück in der Nähe von Romont FR gefunden. Es ist davon auszugehen, dass es sich um Marie handelt.»
Das sind Auszüge des Livetickers auf dem Internetportal des «Blick». Es berichtet den Lesern aus einer Pressekonferenz in Lausanne über das Tötungsdelikt an einer 19-jährigen Frau. Internetsurfer können scheinbar ungefiltert live mitverfolgen, welche Details die Polizei über die Tat bekannt gibt.
Liveticker laufen auf etlichen Internet-Nachrichtenportalen. Sie decken viele Bereiche der Berichterstattung ab: Neben Kriminalität vor allem Sport, Politik und sogar Kultur. Kein Ereignis scheint zu banal, um per Liveticker darüber zu berichten und die Leser einzuladen, online dabei zu sein.
Mit dabei sein ist alles – sogar beim Bücherlesen
Am beliebtesten ist der Sport: Ob Cupfinal, wichtige Spiele der Superleague oder Eishockeymatches – alles findet seine minutengenaue Berichterstattung. Das Newsportal von «Tages-Anzeiger», «Bund» und «Basler Zeitung» berichtete per Liveticker selbst von einem aus Schweizer Sicht unwichtigen Tennisspiel in der ersten Runde des French-Open-Turniers zwischen dem Spanier Rafael Nadal und dem Deutschen Daniel Brands: «6 : 4 Mit einem Vorhand-Winner sichert sich Nadal den dritten Durchgang. Brands’ Gegenwehr ist aber weiterhin beachtlich.» Tatsächlich? Oder soll der Leser im einseitigen Spiel bei Laune gehalten werden?
Dasselbe Newsportal berichtete live von der Lektüre des jüngsten Bestsellers des US-Autors Dan Brown. Der Online-Journalist fasst beim Lesen Kapitel um Kapitel zusammen: «Kapitel 55–57. Langdon findet Dantes Totenmaske im Taufbecken des Battisero. Zobrist hat eine Nachricht darauf angebracht: PPPPP – Dantes Code für die sieben Todsünden. Und darunter eine weitere Nachricht ...» An einigen Stellen gibt der Journalist seine Gedanken zum Besten: «Beschreibungen wie aus einem Stadtführer – hat Dan Brown den Job verfehlt?» Wer einwendet, ein Buch lese man besser selbst, hat zwar recht – aber das Wesen des Livetickers nicht verstanden: Denn diese Art der Information vermittelt die Illusion, man habe etwas gelesen, ohne es tatsächlich getan zu haben.
In der Regel keinerlei relevante Neuigkeiten
Das Gleiche gilt für den Liveticker von einer Pressekonferenz der Bundesrätin Simonetta Sommaruga über die Ecopop-Initiative, die wegen zunehmender Umweltbelastung die Einwanderung einschränken will: «13.30 Die PK beginnt. Der Bundesrat will die Ecopop wie erwartet ablehnen. Er lehnt es auch ab, dem Volksbegehren einen Gegenvorschlag entgegenzustellen ...» Alles Informationen, die längst vor 13.30 Uhr bekannt waren. Unergründlich auch, wie eine Redaktion auf die Idee kommt, die Stellungnahme des Bundesrats zu einer Initiative interessiere weitere Leserkreise als die Parteizentralen.
Unverständlich auch, was die detaillierte Wiedergabe von formellem Schlagabtausch unter Anwälten soll: Der Liveticker von «Bild»-Online aus dem Prozess über die Tötungsdelikte an Türken: «14:25: Opfer-Anwalt führt Zschäpe-Verteidigung vor! Die Verteidiger von Beate Zschäpe kritisieren, dass die Entscheidung, ob Aktenteile verteidigungsrelevant sind oder nicht, allein von der Bundesanwaltschaft getroffen würden. Ein Nebenkläger-Anwalt meldet sich zu Wort und erklärt, dass er problemlos Einsicht in die Akten der Bundesanwaltschaft erhalten habe. Kopien seien ebenfalls möglich gewesen ...»
Überprüfung des Wahrheitsgehalts fehlt
Auch der sieben Stunden umfassende Liveticker der BBC über den tödlichen Messerangriff auf einen britischen Soldaten in London ist für den Internetleser eine ermüdende Lektüre: «7:43: Die Passantin Ingrid Loyau-Kennett sprach einen der Attentäter an. Sie sagte, er habe nach eigener Aussage getötet, weil er genug habe von der Ermordung der Muslime im Irak und in Afghanistan. In der Morgensendung der TV-Station ITV sagte sie, dass mehr und mehr Leute den Tatort erreichten. Zuerst sei da gar niemand gewesen ...»
Auch hier scheitert der Liveticker an seinem Anspruch, zu informieren: Kein Leser weiss, was tatsächlich passierte. Er erhält eine Fülle von zum Teil widersprüchlichen Aussagen, deren Wahrheitsgehalt ungeprüft ist und deren Urheber häufig unklar sind. Schade: Eigentlich wäre es die Aufgabe von Journalisten, nicht nur Aussagen von Drittpersonen zu transportieren. Sondern Fakten abzuklären, Aussagen einzuordnen und eine Situation zu analysieren.