Dienstag, 24. März, gegen 18 Uhr: Die S12 nach Winterthur trifft mit ein paar Minuten Verspätung im Bahnhof Zürich-Stadelhofen ein. Die Zugkomposition ist nur halb so lang wie sonst. Hunderte quetschen sich in die Wagen. Würden sie den nächsten Zug ab­warten, verpassten sie in Winterthur ihre Anschlüsse. Auch die Passagiere der 1. Klasse haben keine Chance, einen Sitz­platz zu ergattern. Im Gang stehen dicht an dicht Geschäftsleute mit Aktenkoffern. «Das ist ein teurer Stehplatz», schimpft jemand.

Ein weiterer Augenschein im Intercity Zürich–Bern am Mittwoch, 1. April, 7.32 Uhr: Das Wetter ist schlecht und lädt nicht zu Ausflügen ein. Die Frühlingssession des Parlaments ist zu Ende – dennoch ist die 1. Klasse übervoll. Eine Frau findet nur auf der Gepäckab­lage ­einen Platz. David T. aus Zürich nimmt mit der Treppe vorlieb. Er sei alle Erstklasswagen abgelaufen – erfolglos, erzählt er. Wenn er die Passagiere auf den halbrunden Salonbänken gebeten hätte, enger zusammenzurücken, hätte er wohl noch einen Platz gefunden. Doch das wollte er nicht: «Ich hasse es, so eng zusammengepfercht zu reisen», sagt der 45-Jährige. Mit Halbtax kostet ihn der «erstklassige» Treppensitzplatz 44 Franken. In der 2. Klasse hätte er dafür 25 Franken bezahlt.

Die SBB behaupten, Sitzplatzmangel gebe es in der 1. Klasse nicht. Selbst bei den am stärksten ausgelasteten Verbindungen im Fernverkehr liege die Sitzplatzbelegung «klar unter 100 Prozent». Doch regelmässige Pendler wissen: Zu den morgendlichen Hauptverkehrszeiten ist die 1. Klasse zwischen Bern und Zürich oft übervoll. Wer spät einsteigt, muss sich mit einem Steh- oder Treppensitzplatz begnügen. Auch zwischen Zürich und Zug platzt die 1. Klasse in den Schnellzügen oft aus allen Nähten.

«Täglich um einen Sitzplatz balgen»

In Internetforen stösst man ebenfalls auf Kommentare, welche die Sitzplatzknappheit in der 1. Klasse belegen. Bernhard S. schreibt: «Der Zug von Biel nach Zürich ist in der 1. Klasse zum Teil ab Solothurn und regelmässig ab Olten voll besetzt. Der Fahrgast mit einem 1.-Klasse-GA für über 5000 Franken soll also täglich von Olten nach Zürich HB stehen?» Ein Pendler auf der Strecke Zürich–Bern ärgert sich, dass er sich trotz seines teuren 1.-Klasse-Abos «täglich um einen Sitzplatz balgen muss». Von einer «total überfüllten» 1. Klasse in ­einem Zug nach Lugano berichtet Mario M. Er habe sich deshalb in die 2. Klasse ­gesetzt. Die Kondukteurin habe nicht nachgefragt, weshalb er mit seinem 1.-Klasse-Billett in der 2. Klasse sitze. 

Was Mario M. nicht wusste: Er hätte das Recht ge­habt, das zu viel bezahlte Geld zurückzufordern. In den Tarifbestimmungen der SBB heisst es: «Wurde die Benützung der 2. Klasse mit Fahrausweisen 1. Klasse wegen Platzmangels bestätigt, ist die Erstattung auf Basis des Klassenwechsels für die in 2. Klasse befahrene Strecke zu berechnen.» Mario M. hätte also Anspruch auf die Fahrpreisdifferenz zwischen 1. und 2. Klasse gehabt.

In den Bestimmungen ist nur der Fall geregelt, dass ein Erstklasspassagier in der 1. Klasse keinen Sitzplatz mehr findet und deshalb auf die 2. Klasse ausweicht. Was aber gilt im viel wahrscheinlicheren Fall, dass sich weder in der 1. noch der 2. Klasse ein Sitzplatz findet? Besteht auch ein Anspruch auf Teilrückerstattung des Billetts bei einem Steh- oder Treppenplatz in der 1. Klasse? 

Arnold Rusch, Rechts­anwalt und Privatdozent an der Uni Zürich, bejaht: «Wenn es für Erstklasspassagiere eine Kostenerstattung gibt, weil sie in der 2. Klasse reisen müssen, dann erst recht, wenn sie auch in der 2. Klasse keinen Platz finden.»

Wie oft mussten die SBB in den letzten Jahren den Klassenwechsel aufgrund von Sitzplatzmangel zurückerstatten? Die SBB antworten ausweichend: «Unser Kundendienst verzeichnet entsprechende Anfragen praktisch nie.» Das dürfte damit zusammenhängen, dass die SBB diese Regelung nicht an die grosse Glocke hängen und deshalb fast niemand Kenntnis davon hat. 

Wenn möglich beim Zugbegleiter melden

Laut SBB-Sprecher Daniele Pallecchi müssen 1.-Klasse-Passagiere, die keinen Sitzplatz 1. Klasse mehr finden, sich beim Zugbegleiter melden oder nach der Reise am Schalter oder beim Kundendienst (kostenlose Nummer: 0800 401 401). Dort könnten sie eine Erstattung verlangen. Das gelte auch für 1.-Klasse-Kunden im Regionalverkehr. Für Regionalzüge mit Selbstkontrolle – also ohne Zugbegleiter – ist es jedoch schwierig, eine Bestätigung für eine Überbesetzung zu erhalten. Pallecchi verspricht: «Selbstverständlich setzen die SBB auch hier alles daran, eine gute Lö­sung zu finden.»

saldo überprüfte das Versprechen und erhielt vom Kundendienst für einen Stehplatz 1. Klasse von Zürich-Stadelhofen nach Winterthur immerhin einen 5-Franken-Gutschein.

Allerdings: Bei der Erstattung halten sich die SBB an die Tarifbestimmungen und diese schliessen «Fahrausweise für eine unbeschränkte Anzahl Fahrten» aus. Das heisst: Wer mit einem Einzelbillett oder einer Mehrfahrtenkarte 1. Klasse reist, kann bei Sitzplatzmangel mit einer Entschädigung rechnen, nicht aber, wer mit ­einem GA oder Verbundabo 1. Klasse unterwegs ist. 

Das ist stossend. Schliesslich zahlt man für ein GA

1. Klasse 1,63 Mal so viel wie für jenes der 2. Klasse. Und im Personenbeförderungsgesetz heisst es: «Die Tarife richten sich nach dem Umfang und der Qualität der Leistung und nach den Kosten des Angebots.» Für den Mehrpreis darf der 1.-Klasse-Passagier also auch mehr Leistung erwarten. Bei ­einem Stehplatz entspricht die Qualität der Leistung aber selbstredend nicht den Mehrkosten. Den SBB würde es deshalb gut anstehen, bei überbelegten 1.-Klass-Wagen allen Passagieren – ob mit Einzelbillett oder Abo – noch im Zug einen Gutschein auszuhändigen. 

Forum: Sind Sie mit dem Platzangebot in den Zügen der SBB zufrieden? 

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