saldo:Sie untersuchten die Auswirkungen der Kurzarbeit nach der Bankenkrise 2008. Half damals die vorübergehende Kurzarbeit, um Arbeitsplätze für länger zu sichern?

Michael Siegenthaler: Ja. Die Erfahrungen zeigen, dass dank Kurzarbeit Stellen erhalten wurden. Es gab auch weniger Arbeitslose. Dieser Effekt war nicht nur kurzfristig – die Entlassungen wurden also nicht bloss aufs Ende der Kurzarbeit hinausgeschoben. Anders war die Situation bei vielen Unternehmen, die 2009 Kurzarbeit beantragten und deren Anträge abgelehnt wurden. Solche Firmen kämpften nachher während Jahren mit grossen Problemen. Eine naheliegende Erklärung dafür:  Diese Unternehmen mussten sich in der Krise von guten Leuten mit Know-how trennen, die nachher auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr einfach zu finden waren. So konnten diese Unternehmen vom Aufschwung nicht profitieren. 

Und wie ging es den Betrieben mit Kurzarbeit? 

Diese bezogen im Durchschnitt fünf Monate lang Kurzarbeitsentschädigungen und hörten freiwillig auf, wenn sie die Kurzarbeit für nicht mehr nötig hielten. Weniger als jede fünfzigste Firma schöpfte die Kurz­arbeit bis zum Ende aus. Das sind nicht einmal zwei Prozent. Die Bezugsdauer wurde 2009 zunächst auf 12, dann auf 24 Monate erweitert und später wieder verkürzt. Das zeigt klar: Kurzarbeit verhindert Entlassungen.

Andere Studien kamen aber zum gegenteiligen Schluss.

In früheren Studien wurden jeweils – salopp gesagt – faule Äpfel mit gesunden Birnen verglichen. Firmen mit Kurzarbeit wurden Unternehmen gegenübergestellt, die keine Kurzarbeit einführen mussten und dies auch nie wollten. Bei unserer Untersuchung über die Auswirkung von Kurzarbeit in Zusammenhang mit der Finanzkrise 2008 konnten wir dank neuartigen Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco erstmals Gleiches mit Gleichem vergleichen.  Wir führten Informationen aus allen Kurzarbeitsgesuchen der Jahre 2009 bis 2014 mit dem Arbeitslosenregister des Seco und der Stellenstatistik des Bundesamtes für Statistik zusammen. Wir verglichen Firmen, deren Antrag auf Kurzarbeit genehmigt wurde, mit Unternehmen, deren Antrag abgelehnt worden war. Das heisst: Bei unserer Untersuchung haben alle Firmen einen Antrag auf Kurzarbeit gestellt. Das ergibt eine weit bessere Ausgangslage als bei früheren Untersuchungen. 

Gab es Unterschiede zwischen den Branchen?

Kurzarbeit nützt in den meisten Branchen – also nicht nur in der Industrie. Unsere Arbeit zeigt, dass Kurzarbeit auch im Dienstleistungsbereich Jobs sichern kann. Das ist jetzt in der Coronakrise mit Betroffenen in sämtlichen Wirtschaftszweigen sehr wichtig. Die grössten Unterschiede stellten wir innerhalb der Industrie fest, zwischen High-tech- und Lowtechunternehmen. In Hightechbereichen wie Chemie, Pharma, Maschinenbau, Elektro- und Uhrenindustrie sowie Datenverarbeitung war Kurzarbeit wirkungsvoller als in Lowtechbran­chen wie der Textilherstellung oder im Druckereigewerbe.

Wie hat sich die Kurzarbeit auf die Angestellten ausgewirkt?

Von der Kurzarbeit profitierten vor  allem niedrig- und mittelqualifizierte Angestellte mit einem Lehrabschluss oder einer tieferen Ausbildung. Kurzarbeit verhindert deshalb auch viel Langzeitarbeitslosigkeit. Leute mit einem schwachen Bildungsrucksack haben oft das Problem, dass sie lange arbeitslos sind, wenn sie in einer Krise den Job verlieren. Die Verhinderung langer Arbeitslosigkeit zeigt den finanziellen Nutzen der Kurzarbeit. Wenn Firmen jemanden entlassen, der nachher ein Jahr oder länger arbeitslos ist, ist das für Arbeitslosenkassen schlimmer, als wenn diese Person drei Monate Kurzarbeitsentschädigung bezieht. 

Wie sah die Rechnung der ­Arbeitslosenversicherung unter dem Strich aus?

Pro Betrieb mit Kurzarbeit haben die Arbeitslosenkassen zwischen 2009 und 2014 gut 100 000 bis fast 200 000 Franken gespart. Im Durchschnitt hatten Firmen, die  Kurzarbeit beantragten, etwa 25 Beschäftigte. Wenn ihr Antrag ab­gelehnt wurde, entliessen diese ­Unternehmen in der Folge 2,5  bis 4 Leute. Diese blieben etwa 300 Tage arbeitslos. Gemäss unserer Schätzresultate konnte die Kurzarbeit pro Betrieb mindestens rund 650 Taggelder mit einem durchschnittlichen Arbeitslosentaggeld von 167 Franken einsparen – das entspricht 108 000 Franken. Die obere Grenze unserer Schätzungen liegt bei 1200 Taggeldern oder knapp 200 000 Franken. 

Wie wirkte sich Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit auf den Konsum der Betroffenen aus?

Wenn jemand die Stelle verliert, ist das für die Gesellschaft schlimmer, als wenn eine Person für einige Monate Kurzarbeit bezieht. Jemand mit Kurzarbeit konsumiert mehr als jemand, der arbeitslos ist. Wer arbeitslos ist, muss seinen Konsum herunterfahren. Bei Arbeitslosen, speziell bei Langzeitarbeitslosen, muss man auch mit gesundheitlichen Folgen wie Depressionen rechnen. Kurzarbeit ist also ganz allgemein für die Wirtschaft ein ­automatischer Stabilisator. Aktuell werden bald ein Zehntel aller Arbeitnehmer in der Schweiz auf Kurzarbeit sein. Unvorstellbar, was passieren würde, wenn man stattdessen viele dieser Leute entlassen müsste. 

Besteht nicht die Gefahr, dass marode Firmen versuchen, sich jetzt via Kurzarbeitsgelder zu sanieren? 

Diese Gefahr ist vorhanden, und solche Fälle wird es wohl geben. Bisher war dieses Phänomen aber nicht ausgeprägt. Das sieht man schon daran, dass in wirtschaftlich guten Zeiten kaum ein Unternehmen Kurzarbeit beantragt, obwohl es auch in guten Perioden viele Firmen gibt, die finanzielle Probleme haben. Zudem ist es in der heutigen Situation vergleichsweise einfach zu beurteilen, ob eine Firma Anspruch auf Kurzarbeit hat: Es lässt sich etwa sehr einfach überprüfen, ob ein Laden oder ein Unternehmen wegen behördlicher Massnahmen schliessen musste. In solchen Fällen ist das Missbrauchspotenzial minimal.