Internet-Überwachung: Behörden wollen immer mehr private Daten sammeln
Der Bundesrat will künftig alle Surfspuren der Internetnutzer auf Vorrat speichern lassen. Für die Kosten müssten letztlich die Überwachten aufkommen.
Inhalt
saldo 17/2011
23.10.2011
Letzte Aktualisierung:
25.10.2011
Thomas Lattmann
Vor 15 Jahren verständigten sich die meisten Schweizer auf Distanz per Telefon, Fax oder Briefpost. Es galt das Brief- und Telefongeheimnis: Die Behörden durften Briefe nur öffnen und Telefone nur abhören, wenn ein Gericht einen Antrag der Staatsanwaltschaft gutgeheissen hatte. Das setzte ein Strafverfahren voraus und somit einen dringenden Tatverdacht gegen einen Bürger.
Heute, im Zeitalter der elektronischen Post, sind die Unternehmen, die...
Vor 15 Jahren verständigten sich die meisten Schweizer auf Distanz per Telefon, Fax oder Briefpost. Es galt das Brief- und Telefongeheimnis: Die Behörden durften Briefe nur öffnen und Telefone nur abhören, wenn ein Gericht einen Antrag der Staatsanwaltschaft gutgeheissen hatte. Das setzte ein Strafverfahren voraus und somit einen dringenden Tatverdacht gegen einen Bürger.
Heute, im Zeitalter der elektronischen Post, sind die Unternehmen, die Internetzugänge anbieten, von Gesetzes wegen verpflichtet, die Eckdaten des gesamten E-Mail-Verkehrs ihrer Kunden während sechs Monaten zu speichern. Das wäre dasselbe, als hätten die Behörden früher von der Post verlangt, bei allen versandten Briefen säuberlich Adresse und Absender sowie ein Stichwort mit dem Inhalt aufzuzeichnen und sechs Monate aufzubewahren. Zudem sind die Telefonunternehmen heute gesetzlich verpflichtet, Ausgangs- und Zielnummer sowie Zeitdaten aller Gespräche während sechs Monaten zu speichern. Und die Post muss Aufgabe- und Empfangsort sowie Empfänger von jedem Einschreiben und Paket für diese Zeit aufbewahren.
Bundesrat will Login-Daten und besuchte Websites speichern
Damit ist der Datenhunger der Behörden noch lange nicht gestillt. Im Sommer wurde bekannt, dass das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) unter Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs revidieren will. Angeblich handelt es sich nur um eine Anpassung an den aktuellen Stand der Technik.
Aber es steckt mehr dahinter, wie ein Blick in den Entwurf zeigt. Neu soll auf Antrag der Behörden die Überwachung des ganzen Echtzeit-Internetverkehrs eines Tatverdächtigen durchgeführt werden können. Dazu gehören das Mithören von Telefonaten, beispielsweise über Skype, oder das Mitlesen von Chats.
Heute müssen die Provider die Internet-Protokoll-Adressen (IP-Adressen), die Nutzungszeiten und zugehörigen Benutzer speichern. Neu sollen sie laut Verordnungsentwurf auch die «verwendeten Anmeldungsdaten» sowie die «verfügbaren Adressierungselemente» archivieren.
«Nirgends in Europa gibt es eine solche Überwachung»
Für Simon Schlauri, der sich beim Schweizerischen Verband der Telekommunikation mit der Revision der Verordnung befasst, ist diese Regelung «haarsträubend». Sie könne auch so verstanden werden, dass die Adressen sämtlicher besuchter Websites eines Benutzers zentral gesichert werden müssen. Ferner könne die Speicherung von Login-Daten, wie es sie zum Beispiel fürs E-Banking braucht, verlangt werden. Schlauri: «Das ist eine massive Ausweitung der staatlichen Überwachung des Bürgers, die es so nirgends in Europa gibt.» Zudem ärgert sich der Jurist, dass die Einführung der neuen Regeln am Parlament vorbei ohne gesetzliche Grundlage erfolgen soll.
Dass die Opposition gegen die geplante Revision der Verordnung von Telekomunternehmen kommt, hat einen Grund: Die Erweiterung der Überwachung bringt Mehrkosten mit sich. Der Internet-Provider Green befürchtet Investitionen in fast zweistelliger Millionenhöhe, um die technischen Voraussetzungen für die geforderte Echtzeitüberwachung und die Archivierung zu schaffen.
UPC Cablecom will die Investitionen erst beziffern, wenn die Richtlinien verabschiedet sind. Der Kabelriese rechnet aber für einen einzigen Echtzeitüberwachungs-Auftrag mit Kosten von mehreren Zehntausend Franken. Diese würden auf die Kunden überwälzt.
EJPD-Sprecher Guido Balmer hält die Kostenschätzungen der Telekomunternehmen für «unrealistisch». Der Grossteil der erforderlichen technischen Geräte sei bei den grossen Anbietern schon vorhanden.
Die Speicherpflicht soll auf ein Jahr ausgeweitet werden
Balmer widerspricht auch der Aussage, der Verordnungsentwurf sehe eine Ausweitung des Geltungsbereichs vor: «Er präzisiert lediglich die bestehenden Pflichten. An der bisherigen Datenspeicherungspraxis ändert sich im Prinzip nichts.» Die Revision soll im ersten Quartal 2012 in Kraft treten. Und der Bundesrat will die Überwachung weiter vorantreiben: Es ist geplant, die Speicherpflicht der Provider mittels Gesetzesänderung von sechs auf zwölf Monate zu erhöhen.
Allein letztes Jahr 8128 Aufträge für Überwachungen
Besonders stossend: Diese neue Vorrats-Datenspeicherung trifft jeden Bürger, ohne dass der geringste Tatverdacht gegen ihn vorliegt. Und die Behörden machen auch nicht nur bei schweren Delikten Gebrauch von den Daten – im Gegenteil: Die Statistik des Justiz- und Polizeidepartements weist zum Beispiel für letztes Jahr 8128 Überwachungsmassnahmen und 3202 Auskünfte aus. Beim Internet-Provider Green etwa mit seinen rund 100 000 Kunden geht laut Cheftechniker Aldo Britschgi fast jeden Arbeitstag eine Überwachungsanordnung der Behörden ein.