Stellen Sie sich vor, Ihre Mutter hätte Sie als Kind an einer Strassenecke stehen gelassen und wäre verschwunden.» So oder ähnlich beginnen viele Bettelbriefe. Allein in den ersten drei Wochen des Monats November sammelte die saldo-Redaktion Bettelbriefe von 19 Organisationen: Aids-Hilfe Schweiz, Ärzte ohne Grenzen, Bruno Manser Fonds, Brot für Alle, Caritas, Greenpeace, Hülfsgesellschaft Winterthur, IKRK, Krebsforschung Schweiz, Parkinson Schweiz, Patenschaft Berggemeinden, Pro Juventute, Romero Haus Luzern, Schweizerische Caritasaktion der Blinden, Schweizerisches Rotes Kreuz, SOS Kinderdorf, ­Terre des Hommes Schweiz, Unicef und Züriwerk. 

Kommt mehr vom Geld am Ziel an, steigt die Spendebereitschaft 

Bei so vielen Briefen im gleichen Monat ist der Kampf um die Aufmerksamkeit der Empfänger natürlich gross. Die Spendensammler lassen sich ihre Versände denn auch viel Geld kosten: Geschenke wie Malfarben, Kunstkarten oder Lineale werden gleich zehntausend- und hunderttausendfach verschickt. Die Beilagen zu den Bettelbriefen sollen wohl zu Spenden motivieren. 

Den grössten Erfolg hätten die Hilfsorganisationen aber mit einer andern Strategie: Möglichst viel Geld den Bedürftigen zukommen lassen. Das zeigt eine Studie der Universität San Diego in den USA. Sie besagt, dass die Empfänger spendenfreudiger sind, wenn sie glauben, dass ihr Geld direkt und vollumfänglich an die Hilfsbedürftigen fliesst. 

saldo wollte von den Hilfswerken, die im November sammelten, wissen: Wie viel von 100 gespendeten Franken erreichen bei der aktuellen Sammelaktion voraussichtlich ihr Ziel? Doch diese einfache Frage ist aufgrund der Jahresrechnungen der Hilfswerke nicht zu beantworten. Zu unterschiedlich sind die Verbuchungen. Demnach würde die Caritas zur Gewinnung von 100 Franken privater Spenden 11 Franken – oder 11 Prozent – ausgeben. Bei der Aids-Hilfe Schweiz hingegen wären fast 60 Franken erforderlich, um 100 Franken Spenden einzunehmen. 

Auch verschiedene Nachfragen bei den Hilfswerken brachten keine Transparenz und Klärung. Fazit: Wer spendet, hat keine Ahnung, wie viel Geld wirklich bei den Bedürftigen landet und wie viel für Druck, Versand, Porto und Verwaltung ausgegeben werden. 

Frei erfunden: Die Masche mit dem Einzelschicksal

Das Beschreiben eines rührenden Einzelschicksals mit Foto und möglichst persönlichen Informationen bringt mehr als Zahlen. «Zahlen schrecken ab. Sie transportieren keine Gefühle», sagt der US- Psychologie­professor und Spenden­experte Paul ­Slovic in der «Süddeutschen Zeitung».

Das weiss auch die Pro Juventute. Ihrem jüngsten  Bettelbrief hat sie das Tagebuch einer 14-jährigen Schweizer Schülerin beigelegt. Darin schildert «Claudine» ihre Probleme in Schule und Familie. Unter dem Foto von «Claudine» steht: «Zum Schutz der Person haben wir den Namen geändert und das Bild nachgestellt.» Dies suggeriert, es handle sich bei dem Tagebuch um echte Aufzeichnungen. Dem ist allerdings nicht so. 

Auf Anfrage von saldo gibt Arun Sah, Spendenverantwortlicher der Pro Juventute, unumwunden zu: «Die Beilage ist natürlich kein echtes ­Tagebuch.» Vielmehr handle es sich um nach­gestellte Fallbeispiele aus dem Beratungsalltag der Pro Juventute.