Als Heinz P. in Visp VS den Schnellzug Richtung Zürich betrat, geriet er in ein Gedränge. Verursacht hatte es ein Mann, der auf dem Weg zur oberen Etage plötzlich rechtsumkehrt machte und den Wagen gegen den Strom wieder verlassen wollte.
Das Gedränge benutzte ein Dieb, um Heinz P. das Portemonnaie zu entwenden. Der Bestohlene bemerkte den Verlust erst eine halbe Stunde später, als er im Zug ein Getränk bezahlen wollte. Heinz P. liess seine Visa-Kreditkarte sofort sperren.
Zu spät: Der Dieb hatte am Postomat in Visp bereits drei Bargeldbezüge in der Höhe von 1000 Franken getätigt. Kurz darauf scheiterte der Täter beim Versuch, auch noch am Bancomat der Walliser Kantonalbank Geld zu beziehen. Die Tageslimite der Karte war ausgeschöpft.
Für Heinz P. ist rätselhaft, wie der Dieb mit seiner Karte Geld beziehen konnte. Er hatte den PIN-Code nirgends aufgeschrieben, auch nicht im Portemonnaie. Nach dem Einreichen einer Strafanzeige erfuhr er immerhin, dass er nicht das einzige Opfer war.
Das Gedränge beim Einsteigen in den Zug nach Zürich war absichtlich verursacht worden. Der hinausdrängende Mann war Teil einer professionell agierenden Bande, die so reihenweise Portemonnaies gestohlen hatte. Und mit den Karten an Automaten Geld bezog.
Die Diebe konnten gefasst werden, weil sie von der Kamera des Bancomaten der Walliser Kantonalbank fotografiert wurden. Vergleichbare Fälle ereigneten sich letzten Herbst auch auf Mallorca.
Laut der «Mallorca-Zeitung» wurde mehreren Touristen die Kreditkarten gestohlen und in kürzester Zeit belastet. Unklar ist, wie die Diebe an die PIN-Nummer gelangten. Alle Betroffenen versicherten, den Code nicht auf sich getragen zu haben.
Forscher fanden Mangel im Sicherheitssystem
Ist es also möglich, ohne den PIN-Code mit einer gestohlenen Karte Geld zu beziehen? Anfang 2010 gaben Forscher der Universität Cambridge bekannt, dass sie einen fundamentalen Fehler im EMV-Standard gefunden haben, der zur Absicherung von Zahlungen mit Debit- und Kreditkarten verwendet wird.
Den Forschern gelang es, Transaktionen durchzuführen, ohne einen korrekten Code in ein Kartenlesegerät einzugeben. Durch Manipulation der Kommunikation zwischen Kartenleser und Karte konnten sie jede beliebige vierstellige Zahl als Code benutzen.
Bernhard Wenger von der Six Group, die im Auftrag der Schweizer Banken das Bancomaten-System betreut, behauptet: «Diese Versuchsanordnung der Universität ist bei Schweizer Bancomaten nicht umsetzbar.»
Weder der Bund noch die Six Group kennen angeblich Zahlen, wie häufig es zu Betrügereien an Bancomaten kommt. Aber einige Kantone führen eine Statistik, zum Beispiel Bern: Im letzten Jahr zählte die Polizei 299 Fälle von betrügerischem Missbrauch einer Datenverarbeitungsanlage bei einer Bank oder der Post.
84 solcher Straftaten hat der Kanton Thurgau erfasst. Meist handelt es sich um Bargeldbezüge mit einer entwendeten Maestro- oder Kreditkarte. saldo weiss: Einige Banken und Kreditkartenfirmen sind in solchen Fällen kulant und übernehmen den Schaden der Kunden.
Viseca: Ohne PIN-Code kein Bezug möglich
Nicht dazu gehört die Viseca, die Kreditkartenherausgeberin der Kantonalbanken, Raiffeisen-Gruppe, der Bank Coop und der Migros Bank. Heinz P. verlangte erfolglos, dass die Viseca für seinen Schaden von 1000 Franken aufkommt.
Er ist überzeugt, alle Sorgfaltspflichten erfüllt zu haben. Die Viseca stellt sich aber auf den Standpunkt, dass Bargeldbezüge am Bancomat nur mit PIN-Code möglich sind. Bis heute sei es niemandem gelungen, den Code zu errechnen oder zu umgehen, behauptet sie.
Daraus folgert Viseca, dass Heinz P. sich bei der Eingabe des PIN-Codes beobachten liess. Das ist laut Heinz P. kaum möglich: Den Code habe er am Vorabend des Diebstahls in einem Restaurant in Crans-Montana zum letzten Mal benutzt.
Ungültige Klausel im Vertrag
Die Viseca beruft sich auch darauf, dass laut ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) jeder Einsatz der Karte mit PIN-Code als durch den Inhaber erfolgt gilt.
Doch die Klausel ist in dieser Form nicht gültig. Hans Ruedi Schmid von der saldo-Rechtsberatung: «Es ist nicht zulässig, in den AGB Risiken und Haftung einseitig den Kunden aufzubürden.» Die Risikoverteilung weiche zu sehr vom Gesetz ab, was ungewöhnlich und deshalb nicht gültig sei. Denn für Karteninhaber ist es bei einem Diebstahl praktisch nicht möglich, zu beweisen, dass sie die Sorgfaltspflicht eingehalten haben.
In Deutschland sind deswegen zwei Musterprozesse hängig: einer am Landgericht Bonn, der andere am Oberlandesgericht Frankfurt. Die Urteile stehen noch aus.