Die scheinheiligen Gesundheitsapostel
Lebensmittelkonzerne rufen ihre Kunden zu gesunder Ernährung und mehr Bewegung auf. Gleichzeitig werben die Multis vor allem für Produkte mit viel Zucker und Fett.
Inhalt
saldo 19/2010
20.11.2010
Letzte Aktualisierung:
23.11.2010
Eric Breitinger
Viele Lebensmittelkonzerne publizieren heute eigene Internetseiten zur Gesundheitsprävention. Wer sich auf solche Adressen verirrt, könnte meinen, bei einem Sportanbieter oder einer Diät-Selbsthilfegruppe gelandet zu sein.
Die Fastfood-Kette McDonald’s animiert zum Beispiel mit ihrer Website Balanced Lifestyle zu mehr Bewegung im Alltag und zu Spass am Sport. Cornflakes-Produzent Kelloggs bietet diverse Online-Rechner zu Übergewicht und zur Zahl der beim ...
Viele Lebensmittelkonzerne publizieren heute eigene Internetseiten zur Gesundheitsprävention. Wer sich auf solche Adressen verirrt, könnte meinen, bei einem Sportanbieter oder einer Diät-Selbsthilfegruppe gelandet zu sein.
Die Fastfood-Kette McDonald’s animiert zum Beispiel mit ihrer Website Balanced Lifestyle zu mehr Bewegung im Alltag und zu Spass am Sport. Cornflakes-Produzent Kelloggs bietet diverse Online-Rechner zu Übergewicht und zur Zahl der beim Sport verbrannten Kalorien.
Eine Homepage erklärt Kindern, was sie fit und was sie schlappt macht. Kraft Foods erteilt Eltern online Nachhilfe für die ausgewogene Ernährung der Familie. Auch Gesundheits-Events gehören zum Repertoire: Der Schokoriegel-Hersteller Mars veranstaltete dieses Jahr in der Schweiz rund fünfzig Inline-Skate-Events. Ferrero, Produzent von Nutella und Kinderschokolade, sponsert ein Kinderprogramm beim Segelclub Lugano.
McDonald’s organisierte allein in diesem Jahr dreizehn einwöchige Fussballcamps mit je rund 150 Jungen und Mädchen. Prominentes Aushängeschild der Aktion ist Ex-Nationalspieler Alain Sutter. Der Gesundheitseifer erfasst selbst die Rezepturen: Sechs Konzerne versprachen vor kurzem, einzelne Produkte gesünder zu gestalten.
Coop verpflichtete sich, 35 Joghurts und 20 Frischdesserts etwas weniger Zucker beizumengen. Die Migros will in 171 Fertigprodukten den Salzgehalt verringern. Mars Schweiz verspricht dasselbe für fünf Reisprodukte der Marke Uncle Ben’s. Die Firmen beteiligen sich so am Programm Actionsanté, mit dem das Bundesamt für Gesundheit gesunde Ernährung fördern will.
Alle Konzerne begründen ihr Engagement ähnlich. Man wolle «gesellschaftliche Verantwortung» übernehmen und etwas gegen den Trend zur Fettleibigkeit tun. Laut Thomas Mattig, Direktor des Interessenverbands Gesundheitsförderung Schweiz, ist jedes fünfte bis siebte Kind übergewichtig, 4 Prozent der Kinder haben starkes Übergewicht.
Dicke Kinder hätten «ein stark erhöhtes Risiko, als Erwachsene mit Gewichtsproblemen zu kämpfen». Laut Befragungen tut dies jeder dritte Erwachsene.
Die Branche gibt fast 400 Millionen Franken für Werbung aus
Das liegt auch daran, dass die Lebensmittelkonzerne zwar gerne zu mehr Sport und bewusster Ernährung aufrufen, gleichzeitig aber dazu verführen, immer mehr zu essen. Allein 2009 investierten Nahrungsmittelkonzerne knapp 400 Millionen Franken in Anzeigen, Plakate, Radio- und TV-Spots – das sind 8 Prozent mehr als im Vorjahr.
Ihr Werbeaufwand übertraf den jeder anderen Branche. Die Konzerne propagierten nicht hauptsächlich kalorienarme Produkte. Der grösste Werbeposten für ein Einzelprodukt war mit 75 Millionen Franken der Bereich «Schokolade und Süsswaren».
Die Hersteller liessen sich die Werbung für diese potenziellen Dickmacher fast vier Mal mehr kosten als ihre Reklame für «Brot und Dauerbackwaren» und über fünf Mal mehr als ihr Werbeaufwand für «Früchte und Gemüse» (14 Millionen Franken). Etwas mehr, rund 15 Millionen Franken, steckten sie allein in die Werbung für Glaces – ebenfalls meist Kalorienbomben.
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Getränken. Die Hersteller bewarben 2009 mit knapp 50 Millionen Franken Süssgetränke, aber nur mit rund 9 Millionen Mineralwasser. Die Vorliebe der Hersteller für Süsses und Fettiges hat einen simplen Grund: Solche Produkte versprechen ihnen die höchsten Margen, da Fett und Zucker zu den billigsten Rohstoffen gehören.
TV-Spots werben besonders oft für Fast Food
Die Hersteller lieben vor allem Kinderwerbung. Gemäss einer neuen Studie bewirbt jeder vierte TV-Spot im Umfeld einer Kindersendung Nahrungsmittel. In der Regel handelt es sich dabei um Produkte mit hohem Zucker-, Salz- oder Fettgehalt.
Dies fanden Simone Keller und Peter Schulz von der Universität Lugano heraus, indem sie ein halbes Jahr lang die TV-Werbung im Umfeld von Kindersendungen bei sechs Schweizer sowie einem deutschen und einem italienischen TV-Sender analysierten.
Im Untersuchungszeitraum warben 47 Prozent der Nahrungsmittelspots für Fast Food, 24 Prozent für Süssigkeiten, 23 Prozent für Frühstücksflocken mit oft viel Fett und Zucker. Laut den Forschern nehmen die Hersteller besonders gerne Kinder unter acht Jahren ins Visier, da sie Werbung und Realität kaum unterscheiden können. Keller und Schulz kritisieren dies als «unfair» und fordern eine gesetzliche Regelung.
Experte: Initiativen dienen den Konzernen als «Feigenblatt»
David Fäh vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich hält die Ernährungsinitiativen der meisten Unternehmen für ein «Feigenblatt». Ihre Events und Informationsangebote erreichten meist nur die Schlanken.
Die Kampagnen dienen laut Fäh vor allem der Imagepflege: «Wenn die Konzerne wirklich etwas gegen das Übergewicht unternehmen wollten, müssten sie bei ihrer Kernkompetenz als Lebensmittelhersteller ansetzen und den Gehalt an Zucker, Fett und Salz ihrer Produkte reduzieren.»
Die Konsumenten wür-den laut Fäh bei den meisten Produkten eine Reduktion in kleinen Schritten und über einen grösseren Zeitraum gar nicht bemerken. Auch für Heinrich von Grünigen von der Adipositas-Stiftung überwiegt beim Gesundheits-Engagement der Konzerne meist das wirtschaftliche Kalkül: «Viele reduzieren nur bei wenigen Produkten freiwillig den Gehalt an Salz, um striktere Gesetze zu verhindern, nicht aber den an Fett und Zucker.
So können sie unbehelligt weiter viele ungesunde Produkte verkaufen.» Für von Grünigen passt ins Bild, dass die Nahrungsmittelmultis auf EU-Ebene die Einführung einer klaren Lebensmitteldeklaration via Ampel-Kennzeichnung verhinderten (saldo 11/10).
«Mit der Ampel hätten sich Konsumenten leichter informieren können.» Er glaubt auch nicht, dass Konzerne freiwillig auf ungesunde, aber profitable Produkte verzichten. Daher fordert er gesetzliche Obergrenzen für Fett, Zucker und Salz in Nahrungsmitteln. Den Nutzen hätten die Konsumenten: «Sie haben es dann leichter, eine gesündere Wahl zu treffen.»