PCB in Schulen Gift-Alarm
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Gesundheitstipp 10/2000
01.10.2000
PCBs sind hochgiftig, Krebs fördernd und deshalb verboten. Die Behörden entwarnten vor sieben Jahren: In der Schweiz gebe es in Innenräumen keine PCBs. Doch die Stichprobe des Puls-Tip zeigt: In 6 von 10 untersuchten Schulhäusern hat es PCB-Fugenkitt in den Wänden.
Vielen weiblichen Eisbären in der Arktis wächst ein Penis. Diese Meldung im Fachblatt «New Scientist» ging Anfang September rund um die Welt. Die Forscher des norwegischen Polar-Instituts in Svalbard machen vor...
PCBs sind hochgiftig, Krebs fördernd und deshalb verboten. Die Behörden entwarnten vor sieben Jahren: In der Schweiz gebe es in Innenräumen keine PCBs. Doch die Stichprobe des Puls-Tip zeigt: In 6 von 10 untersuchten Schulhäusern hat es PCB-Fugenkitt in den Wänden.
Vielen weiblichen Eisbären in der Arktis wächst ein Penis. Diese Meldung im Fachblatt «New Scientist» ging Anfang September rund um die Welt. Die Forscher des norwegischen Polar-Instituts in Svalbard machen vor allem einen Stoff für die verhängnisvolle Geschlechtsumwandlung verantwortlich: polychlorierte Biphenyle (PCBs).
Die Chemikalie war in den Sechziger- und Siebzigerjahren beliebt als Kühl- und Isolierflüssigkeit. PCBs sorgten ausserdem dafür, dass die Fugendichtungen in Gebäuden elastisch blieben.
Die Herstellung von PCBs ist heute weltweit verboten, in der Schweiz seit 1971. Doch die Substanzen sind hitzebeständig und sehr stabil. Deshalb tauchen sie noch heute in der Umwelt auf.
Sie dringen durch die Haut und über die Atmung in den Körper ein. Dort reichern sie sich im Fettgewebe und in Organen wie Leber, Nieren, Lunge und Herz an. Sie wirken hormonähnlich, schädigen das werdende Kind und schwächen das Immunsystem. Und sie fördern Krebs.
Eine Stichprobe des Puls-Tip in 10 Schulhäusern aus den Sechzigerjahren kommt jetzt zu einem erschreckenden Resultat: 6 Schulen in Bern, Basel und Olten haben PCBs in Wänden, Treppen und Fensterrahmen.
Der Puls-Tip nahm Proben von Dichtungsmassen, die Handwerker beim Bau der Schulen vor über dreissig Jahren in Fugen von Betonplatten gestrichen hatten. Die belasteten Fugenmassen stammen vor allem aus den Gängen und Pausenhallen der Schulhäuser. Im Primarschulhaus Säli in Olten gibt es im Lehrerzimmer PCBs.
In mehreren Fällen sind wahrscheinlich auch Fugen in den Schulzimmern belastet. Zu diesen hatte der Puls-Tip keinen Zugang.
Die analysierten Fugendichtungen enthielten bis zu 18 Prozent PCBs.
Toxikologe Hermann Kruse: «Enorm hohe Belastungen»
Das seien «enorm hohe Belastungen», sagt der Toxikologe Hermann Kruse von der Universität Kiel. Er befürchtet, dass PCBs aus den Fugendichtungen ausgasen und in die Luft gelangen. «PCBs in der Luft sind gefährlich. Sie gelangen sehr schnell in die Blutbahn und in Lunge und Gehirn», warnt er.
«Alarmierend» sind die Resultate für den Kölner Chemiker und Baufachmann Gerd Zwiener: «Da muss schnell etwas passieren, will man nicht die Gesundheit von Schülern und Lehrern aufs Spiel setzen.» Er rät den betroffenen Schulen, «möglichst schnell Raumluftmessungen durchführen zu lassen».
Aber nicht in der kalten Jahreszeit: «Fugenmassen im Fensterbereich gasen dann wesentlich weniger PCB aus als im Sommer.» Laut Zwiener misst man die höchsten Raumluftkonzentrationen im obersten Stockwerk gegen Süden: «Dort ist es am wärmsten, deshalb gast am meisten aus.»
Der Chemiker weiss, wovon er spricht: Er wies in Deutschland 1989 als Erster PCB in Schulen nach. Heute erstellt er Konzepte, nach denen verseuchte Schulen saniert werden.
In Deutschland stehen PCBs schon seit zehn Jahren zuoberst auf der Prioritätenliste der Schul- und Gesundheitsbehörden. Hunderte deutscher Schulen sind verseucht. Erstmals fand man PCBs im Kölner Schulzentrum Rodenkirchen. Dort waren innert weniger Jahre fünf Lehrer an Krebs gestorben. Darauf liessen die Behörden die gesamte Schule sanieren.
Mit Schutzanzügen und Atemschutzmasken ausgestattet, rissen Spezialisten die Fugen heraus - und entsorgten sie als Sondermüll. Allein in Köln sind 50 Schulen und Kindergärten betroffen und teils schon saniert. Die extrem belastete Dortmunder Stift-Grundschule musste man Ende 1999 notfallmässig schliessen.
In der Schweiz reiben sich Rektoren und Lehrer die Augen, wenn man sie auf PCBs anspricht. «Noch nie gehört», heisst es rundherum.
Kein Wunder: Schon 1994 gaben die obersten Gesundheitsbehörden offiziell Entwarnung. Eine vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) unterstützte Studie kam zum Schluss, dass PCB-Fugendichtungen «vorwiegend in Tanklagern, Tunnels, Staumauern und Kanälen» eingebaut wurden.
Wörtlich heisst es: «PCB-haltige Materialien sind in Innenräumen nicht zu finden.» Und weiter: «Es ist vertretbar und zu empfehlen auf weitere Nachforschungen zu verzichten.» Das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) nahm diese Aussagen in seine Schriftenreihe auf, die es in der ganzen Schweiz an Ämter und Presse verteilt. Dort erklärt das Buwal 1994 unmissverständlich: «Dichtungsmassen für Betonfugen sind zu vernachlässigen.»
Kantonschemiker, Umweltbehörden und Gesundheitspolitiker glauben bis heute daran. «Das gab uns eine falsche Sicherheit», bestätigt Peter Inhelder vom Amt für Umweltschutz des Kantons Schwyz.
Die Autoren der BAG-Studie betonten damals, «mit grossem Einsatz» nach Gebäuden mit PCB-Fugendichtungen gesucht und dafür «etwa 300 Arbeitsstunden» aufgewendet zu haben. Gefunden haben sie das Gift schliesslich in vier Gebäuden, aber keiner Schule. Deshalb kommen sie zum Schluss: Das Risiko einer Aufnahme von PCBs über die Haut oder den Mund, «zum Beispiel durch spielende Kinder», sei praktisch auszuschliessen.
Kindergärtler spielen oft mit den Fugenmassen
Eine gewaltige Fehleinschätzung. Denn die Puls-Tip-Stichprobe zeigt: Mit grosser Wahrscheinlichkeit sind auch Kindergärten betroffen. Zum Beispiel in Olten, wo gleich zwei Kindergärten im PCB-belasteten Säli-Schulhaus integriert sind. Erfahrungen in Deutschland zeigen, dass Kleinkinder die Masse herauskratzen und damit spielen. Baufachmann Gerd Zwiener: «Ich habe mehrmals beschädigte Dichtungen in Kindergärten gesehen. Kinder brauchen PCB-Dichtungen als Radiergummi oder stecken sie in den Mund.» Laut Zwiener besteht die Gefahr, dass Kinder grammweise PCBs aufnehmen.
Daher ist für Bodo Kuklinski, Leiter des Diagnostik- und Therapiezentrums für umweltmedizinische Erkrankungen in Rostock klar: «Die Behörden haben ihre Sorgfaltspflicht verletzt, fahrlässig gehandelt und damit die Gesundheit der Kinder gefährdet.» Harsche Kritik an die Adresse der Behörden.
«Diese Vorwürfe sind nicht gerechtfertigt», sagt Roger Waeber von der Sektion Chemie und Toxikologie des BAG. Seine Begründung: «Vom Gehalt an PCB im Material kann man nicht direkt auf die Belastung der Luft schliessen.» Zudem nehme man PCBs «zu 90 bis 95 Prozent über Nahrungsmittel auf».
Das Buwal dagegen räumt Fehler ein. «Es sind mehr PCB-Fugendichtungen verbaut worden, als das Buwal vor sieben Jahren annahm», sagt Christoph Rentsch, Leiter der Sektion umweltgefährdende Produkte. Dies sei damals nicht korrekt beurteilt worden. «Ich kann nicht mehr zu diesen Aussagen stehen. Aus heutiger Sicht haben wir die Gefahr falsch eingeschätzt.»
Buwal will nun überall nach PCBs suchen
Aufgeschreckt durch die Recherchen des Puls-Tip, will das Buwal jetzt flächendeckend in Schulen und anderen Gebäuden der fraglichen Zeit nach PCB-Fugendichtungen suchen.
Zu diesem Zweck hat Christoph Rentsch eilig eine Projektgruppe gebildet, in der das BAG, die Eidgenössische Materialprüfungsanstalt (Empa) sowie Vertreter der Kantone sitzen. Ende Oktober trifft man sich zum ersten Mal. Die Projektgruppe will Empfehlungen abgeben, welche Gebäude saniert, geschlossen oder gar abgebrochen werden müssen.
Für «dringend angezeigt» hält Peter Inhelder vom Schwyzer Umweltschutzamt solche Massnahmen. Er hat vor kurzem eine Messaktion in 17 Gebäuden durchgeführt. Darunter waren auch drei Schulen. Das Resultat: 11 Proben wiesen PCBs auf. Das habe ihn selbst erstaunt, sagt Inhelder. «In den Schulen fanden wir die Weichmacher in Dichtungen an der Aussenfassade.» Inhelder hat sofort reagiert. Er möchte den Gemeinden in Kürze anbieten, verdächtige öffentliche Gebäude auf PCBs in Fugenkitt zu untersuchen.
Das ist nicht einfach: Fugendichtungen sieht man nicht immer auf den ersten Blick. Sie wurden oft verdeckt eingebaut, zum Beispiel oberhalb von Zwischendecken oder unter der Fensterbank. Auch überstrichene oder verputzte PCB-Dichtungen können weiter ausgasen.
Das Graubündner Amt für Umwelt ist ebenfalls auf PCB-Suche. Man habe «im Rahmen von Vorabklärungen orientierende Proben» veranlasst, sagt Regierungsrat Claudio Lardi, Vorsteher des Erziehungsdepartements. Ob die Proben PCBs enthalten, will Lardi nicht sagen. Er wiegelt ab: «Diese Stichproben sind nicht repräsentativ, deshalb müssen wir darauf verzichten, sie zu kommentieren.»
Die Leidtragenden der PCB-Belastung sind Kinder. Dies bestätigen neuste Forschungsergebnisse aus Holland. In einer von der EU geförderten Studie haben Forscher der Erasmus-Universität in Rotterdam mit PCBs belastete Mütter und ihre Kinder bis ins Vorschulalter hinein regelmässig untersucht. Resultat: PCBs verursachen ein niedrigeres Geburtsgewicht, die Babys wachsen bis ins Alter von drei Monaten langsamer und weisen bis ins Alter von dreieinhalb Jahren Verhaltensstörungen auf.
Einige PCB-Verbindungen wirken ähnlich wie Dioxin, das als gefährlichstes Gift überhaupt gilt. Die US-Umweltbehörde EPA hält fest, dass dioxinähnliche Substanzen «auch in ganz geringen Dosen für den Menschen schädlich sein können».
Margret Schlumpf vom Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Zürich-Irchel warnt vor Missbildungen: «Die Genitalien von Kindern können sich fehlentwickeln. Bei Tieren führen Substanzen wie PCB zu Zwittern.»
Dies unterstreicht eine Studie von Forschern der Tulane-Universität in Alabama, USA. Sie bestrichen männliche Schildkröten-Embryos mit PCBs. Das in der Zeitschrift «Science» veröffentlichte Resultat: Die niedrig dosierten PCBs wandelten das Geschlecht der Tiere um.
Wegen Substanzen wie PCB nehme beim Mann die Zahl der Spermien ab, warnt der Zürcher Arzt Christian Sigg. Der Spezialist für Fortpflanzungsstörungen macht sich Sorgen um die Zeugungskraft der Männer: «Die Spermien deformieren sich. In der Schweiz sind 100 000 Männer unfruchtbar.» Deshalb hätten PCBs in Schulen «nichts zu suchen» und seien «tunlichst zu vermeiden».
Nicht alle PCBs gasen gleich stark in die Luft aus. Clophen A 40 zum Beispiel ist ein Gemisch, das stark flüchtig ist. Die Puls-Tip-Analyse zeigt, dass die Fugen in der Basler St.-Alban-Schule dieses Gemisch aufweisen. «Sind in diesem Schulhaus viele solche Dichtungsmassen vorhanden, treten in der Luft möglicherweise hohe Konzentrationen auf», so PCB-Spezialist Gerd Zwiener.
Im Lauf der Zeit setzen sich PCBs in Möbeln, Farbanstrichen, Teppichen, ja selbst in Bastelarbeiten der Schüler fest. Sie dringen sogar mehrere Zentimeter in Beton ein. Und sie stecken im Pausenbrot, wenn es lange genug herumliegt.
Thomas Grether
«Problematik seriös untersuchen»
Die Stichprobe des Puls-Tip hat Betroffenheit ausgelöst: Die Verantwortlichen der belasteten Schulen reagieren mit sofortigen Massnahmen. Die Behörden prüfen vor Ort.
«Das Resultat der Untersuchung ist erschreckend», sagt Thomas Brogli, Rektor des Freien Gymnasiums in Basel. Er hat sich sofort im Schulhaus umgesehen und festgestellt, dass «es in meinem Büro wie auch in den Schulzimmern verschiedene Arten von Fugendichtungen hat». Brogli hat sofort Proben nehmen lassen und dem Kantonschemiker übergeben. Es sei ihm ein Anliegen, Kinder und Lehrkräfte vor giftigen Substanzen zu schützen. «Ich werde auch eine Luftanalyse in die Wege leiten», sagt Brogli.
- In den Kantonen Basel und Bern kümmern sich die obersten Stellen um den PCB-Fall. Das Basler Kantonslabor sowie das Baudepartement haben das Freie Gymnasium und das St.-Alban-Schulhaus umgehend vor Ort geprüft. Laut Ueli Keller, Leiter Ressort Schulen des Basler Erziehungsdepartements, soll eine Kontrollmessung vorgenommen werden. «Wenn wir PCBs finden, untersuchen wir alle Basler Schulhäuser aus den Sechziger- und Siebzigerjahren.»
- Die Berner Schuldirektorin Claudia Omar nimmt die PCBs «sehr ernst». Sie veranlasse eine Inspektion der Schule für Gestaltung und der Primarschule Gäbelbach. «Als Ärztin weiss ich um die Gefahren solcher Substanzen.» Die Berner Gemeinde Ostermundigen hat noch gleichentags, als der Puls-Tip sie mit den Messresultaten konfrontierte, Proben im Rüti-Schulhaus genommen und ins Labor geschickt. Man sei dankbar dafür, auf ein «wesentliches Problem» aufmerksam gemacht worden zu sein.
- Das Rektorat der Einwohnergemeinde Olten will «die Problematik seriös untersuchen, um die notwendigen Schritte» einzuleiten. «Wir versichern, dass wir alles daran setzen, damit die Gesundheit der Schüler und Lehrer in keiner Weise tangiert wird», sagt Schulsekretär Guido Ulrich.