Öffentlicher Verkehr - Nachtzüge: Die Bahnen haben die Entwicklung verschlafen
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saldo 2/2002
30.01.2002
Flugangst, Swissair-Debakel, Abstürze: Die Zeit wäre ideal, um Reisende für Nachtzüge zu begeistern. Nur: Wer nachts auf Europas Schienen unterwegs ist, reist oft mit alten Waggons und Minimalkomfort.
Bremsen quietschen, gemächlich kommt die Lok auf einem Bahnhof irgendwo in Deutschlands Osten zum Stehen - es ist 1.30 Uhr im Nachtzug nach Prag. Nach einer Stunde und 20 Minuten tuckert die vermeintliche Expressverbindung weiter. Die Luft im Sechser-Liegewagen ist verbraucht, d...
Flugangst, Swissair-Debakel, Abstürze: Die Zeit wäre ideal, um Reisende für Nachtzüge zu begeistern. Nur: Wer nachts auf Europas Schienen unterwegs ist, reist oft mit alten Waggons und Minimalkomfort.
Bremsen quietschen, gemächlich kommt die Lok auf einem Bahnhof irgendwo in Deutschlands Osten zum Stehen - es ist 1.30 Uhr im Nachtzug nach Prag. Nach einer Stunde und 20 Minuten tuckert die vermeintliche Expressverbindung weiter. Die Luft im Sechser-Liegewagen ist verbraucht, das Atmen fällt schwer. «Das sind subtropische Verhältnisse hier drin», raunt einer der Passagiere, ehe er sich umdreht. Die Heizung arbeitet auf vollen Touren.
Prag: Direkte Zugsverbindung gestrichen
Einige Stunden später wird die Abteiltür aufgerissen - blendendes Licht. «Deutscher Zoll, Ausweise bitte», schreit der Zöllner. Nachtruhe existiert für ihn nicht. 14 Stunden 30 Minuten nach der Abreise in Zürich erreicht der saldo-Reporter das Reiseziel Prag.
Nachtzüge aus der Schweiz in die tschechische Touristenmetropole gibt es nicht. Die direkte Tagesverbindung haben SBB und Deutsche Bahn vor zwei Jahren abgeschafft. Wer nachts reisen will, steigt in München um und wartet zwei Stunden auf den Anschluss. Hans-Peter Leu, Leiter internationaler Personenverkehr der SBB: «Der Markt liegt im Promillebereich und ist zu klein für uns: Schweizer fliegen, Tschechen fahren mit dem Bus.»
Das verwundert nicht, wie auch die Rückfahrt zeigt: Die letzten paar Sandwiches sind schon kurz nach der Abfahrt verkauft, WCs verströmen unangenehme Düfte, Duschen fehlen ganz.
Doch auch die Nachtzüge der SBB genügen Minimalstandards nicht mehr: Egal, ob nach Paris, Amsterdam oder Budapest - die Schlafabteile sind veraltet, teils befördern Waggons aus den 60er-Jahren die Passagiere durch Europas Nächte. Dies, obwohl das Netz gut ausgebaut ist: 17 Endziele in Europa werden aus der Schweiz angefahren.
Das Rollmaterial verlottert immer mehr
Wer nach Mitternacht unterwegs ist, muss längere Fahrzeiten erdulden. Tagsüber benötigt ein Zug Rom-Zürich gut acht Stunden - der Nachtzug ist fast vier Stunden länger unterwegs. Hinzu kommt, dass sich Reisende noch bis kommenden Sommer zusätzliche 85 Minuten gedulden müssen. Der Grund: Tunnelarbeiten am Simplon.
«Das ist eine richtige Lotterlinie geworden, die total renovationsbedürftig ist», ärgert sich Dieter Bachmann. Der Leiter des Schweizer Institutes in Rom pendelt seit 2 Jahrzehnten regelmässig und ruht in der ersten Klasse. «Das Einzige, was sich in dieser Zeit geändert hat: Das Wagenmaterial ist heute 20 Jahre älter.»
Dieser Eindruck bestätigt sich auf der saldo-Testfahrt: Die Farbe im Lavabo bröckelt ab, viele Polster in den Liegewagen sind zerschlissen. Bereits kurz nach der Abfahrt riecht es stark nach verbranntem Gummi. 22.29 Uhr, Halt im Bahnhof Zug. Meterhoch steigt Rauch aus dem vordersten Schlafwagen. Hektik. Passagiere rennen hustend aufs Perron. Der untere Wagenteil brennt, das Personal rückt mit Feuerlöschern an. Die Fahrt kann mit 40 Minuten Verspätung weitergehen, nachdem der defekte Wagen abgehängt ist - Endstation Zug.
Nora Stoffel arbeitet für die Schweizer Schule in Rom. Sie lobt das spezielle Frauenabteil; doch ihre Euphorie hält sich in Grenzen: «Es wäre angenehmer, wenn der Nachtzug sauberer wäre.»
Die zweite SBB-Verbindung nach Italien hat den Charme eines Regionalzuges aus den 70er-Jahren. Nach Lecce kommt das älteste Rollmaterial zum Einsatz. «Wir Jungen fliegen heute», sagt uns eine Frau, nachdem sie ihren Vater im Hauptbahnhof Zürich verabschiedet hat. «Zu unbequem» sei ihr das und «viel zu lange».
17 Stunden Fahrt nach Lecce und kein Speisewagen
Drinnen im Liegewagen: Mit ungelenken Bewegungen versuchen sechs Reisende, sich auf drei Quadratmetern einzurichten, und stemmen Koffer auf die Ablage. An der Wand die «Kundmachung» des italienischen Transportministeriums von 1967: «Beim italienischen Grenzübertritt müssen Reisende den Beamten erklären, was ihre Gepäckstücke enthalten.»
Zwei Abteile weiter hinten: Sandra Nyaguy hält anderes für erklärungsbedürftig: «Das Minibar-Personal hier fragt genau einmal nach unseren Wünschen. Auf meiner 50-minütigen Anreise nach Zürich hatte es einen Speisewagen, doch während den 17 Stunden nach Lecce nicht.»
Dass Nachtzüge selbst in der Touristenklasse nicht mit schmalbrüstigem Service aufwarten und schmuddelig sein müssen, zeigt der moderne Citynightline nach Norddeutschland. Bereits beim Einsteigen stellt sich erstmals das Gefühl ein, nicht nur auf Billette kontrolliert zu werden, sondern als Gast willkommen zu sein. Hilfsbereit verstaut das Personal sperrige Koffer im Gepäckwagen. Die Liegewagen nach Norddeutschland sind erst zwei Jahre im Einsatz: Zwar sind die Abteile eng, doch der Teppich ist sauber, die Matratzen gut gepolstert, die Luft unverbraucht. Gegen Aufpreis bietet der Hotelzug gar Dusche/ WC im eigenen Schlafraum. Das Restaurant ist auf dem Weg nach Berlin bis 4 Uhr offen, die Bar gut frequentiert. Komfort, den Reisende schätzen: Der Citynightline transportierte letztes Jahr so viele Gäste wie noch nie.
«Am Abend einsteigen, am Morgen erholt ankommen: Nachtzüge könnten enorm populär sein», betont Fahrgast Dieter Bachmann. Nur: Mit total veraltetem Rollmaterial und endlosen Reisezeiten gleichen die meisten Angebote Relikten aus vergangener Zeit. Die Bahnen haben die Entwicklung verschlafen.
Marc Meschenmoser
SBB schaffen Nachtzüge nach Paris und Brüssel ab
Wir profitieren von der Flugangst und haben jedes verfügbare Rad laufen lassen», freut sich Hans-Peter Leu, Leiter internationaler Personenverkehr der SBB. «In den letzten Monaten war oft jedes Bett belegt - rund eine Million Passagiere reisten letztes Jahr in Schweizer Nachtzügen.»
Dennoch haben die SBB hauptsächlich ins Tagesgeschäft investiert und ihre Nachtlinien vernachlässigt. Die Konsequenz: Tagsüber rücken Europas Städte dank neuer Strecken und Hochgeschwindigkeitszügen immer näher. Im Jahr 2006 wird die Fahrt Zürich-Paris nur noch viereinhalb Stunden dauern. Bereits kommenden Dezember sind Reisende aus Basel 50 Minuten schneller in Dortmund. Die langsamer verkehrenden Nachtzüge geraten immer mehr ins Hintertreffen. Gegenüber saldo be- stätigen die SBB erstmals, dass die Nachtverbindung mit Paris im Jahr 2006 gestrichen wird. Leu: «Stimmt. Mit dem Ausbau des internationalen Schnellbahnnetzes rentieren nur Nachtzüge in Städte, die 800 bis 1000 Kilometer entfernt sind. In 10, 15 Jahren werden nicht mehr allzu viele Nachtzüge fahren.» Mittelfristig will die Bahn auch die Nachtlinie nach Brüssel schliessen.
Noch fahren Nachtzüge 17 europäische Endziele an. 12 davon mit bescheidenem Komfort: nach Paris, Brüssel, Amsterdam, Rom, Venedig, Lecce, Wien, Graz, Zagreb, Belgrad, Frankfurt und Budapest. Moderne Züge, die heutigen Ansprüchen standhalten, verkehren nach Berlin, Dresden, Hamburg, Dortmund (Citynightline) und Barcelona (Pau Casals). Pikant: Die SBB lehnten das Angebot der Citynightline AG ab, die ihre Linien nach Rom und Wien übernehmen und die Qualität verbessern wollte.
Konfrontiert mit den veralteten Nachtzügen, kündigt die heimische Bahn jetzt selbst Massnahmen an. Leu: «Wir haben erkannt, dass das Angebot im Nachtverkehr modernisiert werden muss.» Konkret werden bis Dezember 2003 alle 80 Schlaf- und Liegewagen nach Italien und Österreich/Ungarn komplett umgebaut und vom alten Mief befreit. Erste renovierte Wagen sollen bereits kommenden Sommer nach Italien rollen.
MM