Gift-Skandal - Die Krebskinder von Toms River
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Gesundheitstipp 8/2000
01.08.2000
Verseuchtes Ciba-Areal: US-Anwälte haben eine Sammelklage eingereicht
Krebs hat Michael Gillick entstellt. Der Körper des 21-Jährigen ist von Tumoren zerfressen. Er lebt im amerikanischen Städtchen Toms River. Dort hat die Firma Ciba-Geigy jahrelang das Trinkwasser verseucht.
In Toms River geht die Angst um. Das Städtchen in den USA hat die höchste Kinderkrebsrate im Staat New Jersey. In 15 Jahren erkrankten in Toms River 90 Kinder an Krebs. Statistisch sind 6...
Verseuchtes Ciba-Areal: US-Anwälte haben eine Sammelklage eingereicht
Krebs hat Michael Gillick entstellt. Der Körper des 21-Jährigen ist von Tumoren zerfressen. Er lebt im amerikanischen Städtchen Toms River. Dort hat die Firma Ciba-Geigy jahrelang das Trinkwasser verseucht.
In Toms River geht die Angst um. Das Städtchen in den USA hat die höchste Kinderkrebsrate im Staat New Jersey. In 15 Jahren erkrankten in Toms River 90 Kinder an Krebs. Statistisch sind 67 Fälle zu erwarten. Fünfmal so viele Kinder wie in anderen Staaten haben Leukämie und sogar siebenmal so viele Krebs im Zentralnervensystem. Viele erkranken, bevor sie fünf Jahre alt sind.
Die Eltern der betroffenen Kinder geben die Schuld dafür dem Schweizer Konzern Ciba-Geigy, der bei der Fusion zu Novartis der Ciba Spezialitätenchemie in Basel angegliedert worden ist. Ciba produzierte in Toms River auf einem Gelände von 5,6 Quadratkilometern Farbstoffe, Pigmente und Epoxidzusätze für Klebstoffe und Farben - während 40 Jahren. Auf dem Gelände entsorgte sie 35 000 Fässer mit giftigen Abfällen. 1996 stellte Ciba die Produktion ein.
Bereits 1983 stufte die US-Umweltschutzbehörde EPA das Ciba-Areal als eine der in den USA am schlimmsten verseuchten Stätten ein. Die Altlast muss gemäss EPA dringend saniert werden. Doch die Sanierung, die Ciba 154 Millionen Franken kosten soll, lässt auf sich warten: Im Jahr 2010 soll sie fertig sein.
Jetzt gerät Ciba unter Druck. Im Mai reichten Anwälte eine Sammelklage gegen Ciba ein. «Wir verlangen von der Firma regelmässige medizinische Untersuchungen an jenen Menschen in Toms River zu finanzieren, die noch nicht Krebs haben», sagt Antwalt Michael Gorden. Ziel: Krebserkrankungen möglichst frühzeitig erkennen und behandeln.
Für Michael Gillick kommt jede Hilfe zu spät. Der 21-Jährige hatte erste Krebssymptome, als er drei Monate alt war. Heute ist sein Körper von Tumoren zerfressen. Der Krebs hat sein Nervensystem befallen und Michaels Wachstum gebremst; er ist heute nur gerade 96 Zentimeter gross. Schlimmer noch: Michael hat einen Tumor in der linken Herzkammer und mehrere Geschwulste in der Leistengegend.
Wegen eines Tumors ist sein rechtes Auge erblindet. Manchmal, wenn sich von einer Herzkammer Blutgerinsel lösen, erblindet Michael ganz - zum Glück nur vorübergehend.
Seine Mutter Linda Gillick erinnert sich noch gut an den Tag, als er als kleiner Knirps operiert wurde: «Michael wog keine sechs Kilo. Als die Ärzte ihn aufschnitten, entdeckten sie einen Tumor von der Grösse eines Softballs. Der Tumor hatte seine Niere, Teile seines Herzens und seine Leber angefressen. Die Ärzte konnten ihn nicht entfernen, denn Michael wäre verblutet.» Mehrere Male gaben die Ärzte Michael als todgeweiht auf. Ihr Sohn sei ein Kämpfer, sagt seine Mutter Linda. «Er gibt nie auf.»
Heute muss Michael täglich 270 Milligramm Morphin, ein weiteres Schmerzmittel und mindestens sechs rezeptpflichtige Medikamente einnehmen. Doch sein Wille ist ungebrochen: «Ich liebe meine Freunde und Familie und ich versuche, betroffenen Kindern beizustehen. Ich weiss, was es heisst, mit Krebs zu leben. Darum kann ich anderen Opfern helfen», sagt er.
Behörden wollen endlich Klarheit
Jetzt führen das Gesundheitsdepartement von New Jersey und das US-Bundesamt für toxische Stoffe eine Untersuchung durch, um das genaue Ausmass von Krebs bei Kindern in Toms River zu erfassen. Die Wissenschaftler haben die Eltern von 199 Kindern befragt. 40 dieser Kinder haben Krebs. Die Wissenschaftler hoffen, mit komplexen Computermodellen die Risikofaktoren durch verseuchtes Trinkwasser und verunreinigte Luft aufzeigen zu können.
Kim Pascarellos Tochter war ein Jahr alt, als sie 1990 an einer seltenen Krebsart starb. Pascarello, Anwalt in Toms River, hegt keine Zweifel, dass das verseuchte Trinkwasser die Ursache für den Tod gewesen ist: «Ich kann es mir nicht anders erklären», sagt er.
Für die Eltern ist längst klar, dass Ciba ihre Kinder auf dem Gewissen hat. Sie verweisen dabei auf einen von den Behörden im Februar veröffentlichten Bericht. Der stellt fest, das Ciba-Areal sei in der Vergangenheit eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit gewesen. Die Menschen seien Farbstoffresten und Nitrobenzol im Trinkwasser ausgesetzt gewesen. Mindestens 35 000 Menschen haben gemäss dem Bericht die krebsfördernden Substanzen aufgenommen.
Die Ciba bestreitet jedoch einen Zusammenhang zwischen den erhöhten Kinderkrebsraten und dem verseuchten Trinkwasser. «Wir stützen uns auf eine Fülle von Informationen und Untersuchungen des Werkgeländes seit den Achtzigerjahren», sagt Donna Jakubowski, Vizepräsidentin des Konzerns in Toms River. «Gestützt darauf glauben wir nicht, dass das Fabrikareal die Gesundheit der Bevölkerung beeinträchtigt hat.» Die Ciba sei finanziell nicht verantwortlich für ein medizinisches Überwachungsprogramm.
Die Eltern der kranken oder bereits an Krebs gestorbenen Kinder haben sich zu einem Verein zusammengeschlossen. Nach wie vor führen sie mit dem Konzern Gespräche, um eine gütliche Einigung zu erzielen. Auf finanziellen Schadenersatz wolle man jedoch nicht verzichten, betont die Vereinssprecherin Lori Cardini. Ihre 12-jährige Tochter Jessica hat an Leukämie gelitten und ist heute wieder gesund. Die Behandlungskosten seien sehr hoch gewesen.
Nicht nur das: Jessica wie auch die anderen Krebskinder von Toms River werden als Erwachsene wahrscheinlich nie eine Lebens- oder Krankenversicherung abschliessen können. «Wenn Jessica - Gott behüte - einen Rückfall erleiden sollte, wer kommt dann für die Therapie auf?», fragt Cardini. «Wir haben alle unsere Ersparnisse aufgebraucht, um die Therapien für Jessica bezahlen zu können.»
Reto Pieth