Die gescheiterte Renten­reform 2020 sah eine ­Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,6 Prozentpunkte vor. Jetzt fordert der Bundesrat «für die finanzielle ­Stabilisierung der AHV» gar 1,7 Prozentpunkte – also eine Erhöhung von 7,7 auf 9,4 Prozent. Das ist ein Fünftel mehr. Da stellt sich die Frage: Weshalb hat der Bundesrat nur ein paar Monate nach der Abstimmung seine Forderung zur Erhöhung der Mehrwertsteuer verdreifacht – zusätzlich zur Erhöhung des Frauenrentenalters und ohne Erhöhung der Renten?

Der zuständige Bundesrat Alain Berset beantwortete diese Frage bei der Präsentation des neuen Rentenvorschlags nicht. Er meinte bloss: «Schon bei der letzten Vorlage war klar gewesen, dass im Fall des Scheiterns eine nächste Reform teurer wird, weil sich die Demografie entwickelt.» 

Bundesamt legt Kalkulationen nicht offen

Auch das zuständige Bundesamt für Sozialversicherung wollte saldo nicht sagen, wie man auf diesen happigen Mehrwertsteueraufschlag gekommen ist. Zahlen zu dieser ­Kalkulation würden erst im Sommer veröffentlicht. Nur so viel: Laut dem Bundesamt rechne man im Jahr 2031 mit 3 Milliarden Schulden der AHV, ein Jahr ­später mit einem Minus von knapp 12 Milliarden, zwei Jahre später bereits mit 33 Milliarden. 

Doch diese Prognosen basieren auf vielen unsicheren Annahmen: 

Das Bundesamt geht in den nächsten Jahrzehnten von einer nur leicht steigenden Geburtenzahl aus. Fakt ist aber: Die Zahl der Geburten stieg ­gemäss Bundesamt für Statistik in den letzten 15 Jahren von 71 848 auf 84 959 pro Jahr – eine ­Zunahme um über 18 Prozent. 

Das Bundesamt geht von einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung aus. Fakt ist aber: Seit der Jahrtausendwende stieg sie bei den Rentnern immer langsamer an, bei den Frauen stagnierte sie von 2010 bis 2015. Zwischen 2014 und 2015 sank sie ­sogar vorübergehend.

Ungewiss ist auch, wie viele Aus­länder künftig in der Schweiz arbeiten und in die AHV einzahlen werden. Das Bundesamt rechnet bis 2030 mit einem gleichbleibenden Saldo aus Zu- und Abwanderung. Immerhin: Die Zahl aller Erwerbstätigen nahm von 4,1 Millionen im Jahr 2002 auf 5 Millionen im Jahr 2017 zu – die Zahl der AHV-Beitragszahler stieg also deutlich.

Seit Jahren malen Politiker und die Finanzbranche in Sachen AHV den Teufel an die Wand. Banken und Versicherungen versprechen sich von der Verunsicherung der Bevölkerung, dass freiwillig mehr Geld gespart wird. Das ist für die Branche profitabel. 

AHV macht Gewinn – trotz gegenteiligen Prognosen

Die Katastrophenszenarien bei der AHV sind bisher nie eingetroffen. Die AHV machte auch 2017 wieder ­Gewinn – entgegen den Prognosen des Bundes, der einen Verlust von 101 Millionen prophezeite. Zurzeit verfügt die AHV über 45 Milliarden Franken, die nicht für Renten ausgegeben werden mussten. Von Ende 2001 bis Ende 2016 nahm diese ­Kapitalreserve um 21,42 Milliarden auf 44,67 Milliarden Franken zu. Dabei hat die AHV im Jahr 2011 erst noch 5 Milliarden an die Invalidenversicherung verschenkt. 

Kommt hinzu: Seit 1999 hat der Bund der AHV rund 8 Milliarden Franken an Mehrwertsteuern vorenthalten und in die eigene Kasse geleitet (saldo 19/2017). Der Hintergrund: 1993 sagten die Stimmbürger mit der Einführung der Mehrwertsteuer Ja zu ­einem möglichen zusätzlichen Prozent für die AHV. 1999 wurde die Mehrwertsteuer dann tatsächlich zugunsten der AHV von 6,5 auf 7,5 Prozent erhöht. Laut Verfassung müsste dieses Demografieprozent voll und ganz der AHV zukommen. Doch das Parlament missachtet die Volksmeinung und steckt jährlich 17 Prozent davon in die allgemeine Bundeskasse. 

Die AHV wird im Umlageverfahren finanziert. Das heisst: Die eingezahlten Beiträge werden sofort für die laufenden Renten verwendet. Statistiker des Bundes warnten schon bei der Einführung der AHV 1948 vor der «Vergreisung des Schweizervolks». Die neue Sozialversicherung gerate deshalb über kurz oder lang in Finanznot, prophezeiten sie. In der Tat nahm die Zahl der Rentner stärker zu als die Zahl der Erwerbstätigen. Beim Start der AHV 1948 kamen 6,5 Personen im Erwerbsalter auf einen über 65-Jährigen – heute beträgt das Verhältnis 3 zu 1. 

Doch die Krise blieb aus. Der Grund: Die arbeitende Bevölkerung produziert heute in der gleichen Zeit viel mehr und verdient entsprechend mehr als früher. Deshalb steigen die Einnahmen der AHV auch heute noch – und das trotz unveränderten Lohnbeiträgen von 8,4 Prozent seit 40 Jahren (je 4,2 Prozent für Angestellte und Arbeitgeber).  Sollte sich trotzdem einmal eine finanzielle Durststrecke abzeichnen, könnte die AHV zwei, drei Jahre vorher kurzfristig reagieren. Zum Beispiel mit einer Erhöhung der Lohnprozente. Das wäre wesentlich sozialer als der jetzt vom Bundesrat vorgeschlagene Weg mit einer höheren Mehrwertsteuer. Denn die Lohnprozente werden zur Hälfte von Arbeitgebern und Angestellten bezahlt, die Mehrwertsteuer von den Konsumenten. 

Die Mehrwertsteuer ist ungerecht

Einkommensschwache Haushalte müssen ihr ganzes Einkommen in den Konsum stecken. Deshalb trifft sie diese Steuer besonders hart. Das zeigt eine Auswertung der Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamtes für Statistik: Haushalte mit einem Monats­einkommen bis 3580 Franken geben im Durchschnitt 4,8 Prozent des Bruttoeinkommens für die Mehrwertsteuer aus, das ist deutlich mehr als das wohlhabendste Zehntel mit nur 2,4 Prozent. Zum Vergleich: Bundessteuer zahlen nur zwei Drittel der Bevölkerung – je höher das Einkommen desto höher der Steuersatz. Und die AHV-Lohnabzüge sind prozentual immerhin für alle Angestellten gleich.

Überschüsse umleiten

Der Bundesrat könnte zur ­Sicherung der AHV auch auf bestehende Reserven zurückgreifen. Zwei Beispiele:

Im letzten Jahr schloss die Rechnung des Bundes mit ­einem Überschuss von 4,8 Milliarden Franken ab – und nicht wie prognostiziert mit einem Defizit von 250 Millionen. ­Insgesamt resultiert aus den vergangenen fünf ­Jahren ein Überschuss von ­total 8,8 Milliarden. Das bedeutet, dass die Bevölkerung über Jahre viel zu viel Steuern gezahlt hat. Diese machen den grössten Anteil der Einnahmen des Bundes aus. Es wäre deshalb gerecht und sinnvoll, das Geld via AHV an die Bevölkerung ­zurückzugeben.

Die Nationalbank erzielte 2017 einen Rekordgewinn von 54 Milliarden Franken. In den letzten fünf Jahren betrug der gesamte Überschuss gigantische 85 Milliarden. Nach den Ausschüttungen an Bund, Kantone und Aktionäre beträgt die Reserve komfortable 67 Milliarden. Mehr als genug für einen AHV-Zustupf.