Für die Weinbauern war die jüngste Wümmet keine Freude. An vielen Orten legte die Fruchtfliege «Suzuki» Eier in die Trauben. Dadurch nahmen sie einen Essiggeschmack an. Das Bundesamt für Landwirtschaft erlaubte den Bauern per Notbewilligung, die Reben einmalig mit einem heiklen Insektengift zu spritzen. Das Bundesamt kann «zur Bewältigung einer Notfallsituation» den begrenzten Einsatz von nicht zugelassenen Mitteln erlauben.

Das bewilligte Pestizid «Gazelle SG» enthält den Wirkstoff Acetamiprid. Er kann laut der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit das mensch­liche Nervensystem schädigen (saldo 3/14). 

Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit erklärt zwar, für Weintrinker bestehe kein Risiko. Die Gefahr möglicher Rückstände von Acetamiprid im Wein sei untersucht worden und die Ergebnisse hätten gezeigt, dass «die geltende Höchstkonzentration eingehalten werden kann». Nur: Die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit empfiehlt gerade, diesen Grenzwert zu senken. Dieser Vorschlag zum Schutz der Konsumenten ist bereits elf Monate alt. Das Bundesamt prüft ihn noch immer. 

Wirkungslos, weil zu oft gespritzt wird

Kommt dazu: Die Hersteller von Wein und Getreide kämpfen zunehmend mit Unkräutern, die resistent sind gegen bestimmte Pflanzengifte. Resistenzen bilden sich, wenn Bauern auf denselben Kulturen immer wieder dieselben Gifte spritzen: In einem Waadtländer Weinberg tauchte letztes Jahr das resistente Unkraut Raygras auf. Diesem kann das ­Pestizid Round­up nichts mehr anhaben. Allein im laufenden Jahr sind gemäss Fred Tschuy von der ­landwirtschaftlichen Forschungsstelle Agroscope in Changins VD drei ähnliche Fälle dazugekommen. 

Etliche Pflanzengifte sind auf ganzen Getreidefeldern wirkungslos, weil sie zu oft gespritzt wurden. «Bei den Unkräutern Windhalm und Ackerfuchsschwanz treten vermehrt Resistenzen auf», sagt Tschuy. Noch seien es Einzelfälle – doch die resistenten Unkräuter könnten durch Wind oder Mähdrescher auf andere Felder verbreitet werden. 

Ähnlich ist der Befund von Markus Hochstrasser von der Fachstelle Pflanzenschutz des Kantons Zürich. Er kennt drei bis vier Felder im Kanton mit resistenten Unkräutern. Laut dem ­Ratgeber der Fachstelle «Pflanzenschutzmittel im Feldbau 2014» wurden beim ­unerwünschten Ährengras Ackerfuchsschwanz im Getreidebau bereits Resistenzen gegen drei Wirkstoffgruppen nachgewiesen.

Pestizidhersteller rät zu Mehrfacheinsätzen

Trotzdem wird weiter gespritzt. Die Bauern verwenden abwechslungsweise unterschiedliche Pflan­zengifte, um Resistenzen zu verhindern. Der Pestizidhersteller Bayer Agrar mit Sitz in ­Zollikofen BE empfahl in der Fachzeitung «Schweizer Bauer», bei unkrautbelasteten Feldern mit Wintergetreide im Herbst wie auch im Frühling Pflanzengift zu spritzen. Einfach jeweils ein anderes. Normal ist eine einmalige Behandlung im Frühling.

Kein Wunder, finden die Kantonslabors vermehrt Rückstände von Giften in Lebensmitteln. Beispiel Bern: Das Kantonslabor fand bei Brombeeren, Himbeeren, Heidelbeeren, Johannisbeeren und Stachelbeeren Rückstände von nicht weniger als 17 verschiedenen Pestiziden. Fast die Hälfte von 40 Proben war mit Resten mehrerer Pestizide belastet. 90 Prozent der Beerenproben stammten aus der Schweiz. Bei Salat fanden die Berner Kantonschemiker in 40 Prozent der Proben Rückstände von 4 bis 8 verschiedenen Pestiziden. 

Das Muster ist dabei immer dasselbe: Kein Pestizid liegt für sich allein über dem gesetzlich festgelegten Höchstwert. Wie sich der Pestizid-Cocktail insgesamt auswirkt, ist aber unklar. 

«Man weiss zu wenig, wie die Wirkstoffe untereinander reagieren und welche toxikologischen Auswirkungen das haben kann», sagt der Berner Kantonschemiker Otmar Deflorin. Der Präsident des Verbands der Kantonschemiker fordert deshalb einen Summenwert für gewisse Pestizid-Gruppen oder einen Höchstwert für die Anzahl erlaubter Rückstände: «Es entspricht wohl nicht der Erwartung von Konsumenten, dass man in einem Lebensmittel mit Rückständen von zehn verschiedenen Pestiziden rechnen muss», sagt Deflorin. 

Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit sieht in Mehrfachrückständen kein gesundheitliches Risiko. Eine Methode zur ­Risikobewertung gibt es allerdings nicht. 

Die EU tut mehr zum Schutz vor Pestiziden

Im Agrarbericht 2013 schreibt das Bundesamt für Landwirtschaft, dass die Menschen in der EU besser vor Pestiziden geschützt sind als in der Schweiz. Ziel sei es, «ein Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu erreichen, das mit demjenigen in der EU vergleichbar ist». Der Bundesrat gab dazu im Mai beim Bundesamt einen Bericht in Auftrag für einen «Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln». Damit sollen Mensch, Umwelt und Kulturen besser vor Pestiziden geschützt werden. Die Resultate liegen nicht vor 2016 vor.