Dichter Nebel hängt über dem Richteramt Olten-Gösgen SO. Vor dem Gerichtssaal sitzt der Kläger mit seiner Anwältin. Sie diskutieren eifrig miteinander. Auch der Beklagte bespricht mit seinem Anwalt die letzten Details, bis der Gerichtsschreiber die Parteien in den Gerichtssaal bittet.
Die Anwältin des Klägers kommt vor dem Einzelrichter gleich zur Sache: «Das Grundstück meines Klienten liegt neben dem Grundstück des Beklagten. Auf diesem Grundstück befinden sich mehrere Bäume und Sträucher.» Die drei Nadelbäume und der Kirschlorbeerbaum würden über die Grundstücksgrenze auf das Grundstück ihres Mandanten ragen. Das gelte auch für einzelne Äste des Vogelbeerbaums und des Rebenlaubs.
«Es ist zwar üblich, dass derartige Bäume und Sträucher Nadeln, Blätter, Beeren und Tannenzapfen verlieren», sagt die Anwältin. Was sich aber vor dem Haus ihres Mandanten abspiele, sei nicht normal. Die Tannenzapfen würden direkt auf die Strasse fallen, die ihrem Mandanten gehört.
Wegen herabfallender Äste bestehe zudem ein erhebliches Risiko, dass Personen- oder Sachschäden an parkierten Autos entstehen. «Der Beklagte muss dazu verpflichtet werden, die auf die Strasse ragenden Äste zurückzuschneiden.» Er profitiere bei der Strasse von einem Wegrecht und sei deshalb wie ihr Klient verpflichtet, diese sauber zu halten. «Er begnügt sich aber damit, nur einen schmalen Streifen der Strasse zu wischen.» Im Winter habe er gar nie geputzt. «Da er die Strasse mitbenutzt, muss er sich an Unterhaltsarbeiten beteiligen.»
Der Anwalt des Nachbarn beantragt die Abweisung der Klage. Die Bepflanzung entspreche den gesetzlichen Anforderungen. Dies hätte seinem Mandanten der Werkhofleiter bestätigt, der die Bepflanzung und den Pflanzenschnitt Ende 2020 kontrolliert habe. Zudem würden nur wenige Zweige eines einzigen Baumes im oberen Bereich zirka 30 Zentimeter über die Grundstücksgrenze hinausragen.
Auch bezüglich Strassenunterhaltspflicht widerspricht der Anwalt der Rechtsvertreterin des Klägers: «Mein Mandant putzt die Strasse fast wöchentlich. Ich sehe deshalb nicht ein, weshalb er darüber hinaus noch an die Reinigungskosten zahlen soll.»
Nur die Äste einzelner Bäume dürfen noch über den Hag ragen
Der Richter erklärt den Parteien, die Rechtslage sei nicht klar. Das Urteil könne deshalb zugunsten der einen oder der anderen Partei ausfallen.» Er macht den Parteien einen Vorschlag für einen Vergleich: Die Bäume und Sträucher werden bis zu einer Höhe von 3,5 Metern zurückgeschnitten, sodass keine Äste mehr auf die Strasse fallen. Die Äste von vereinzelten grösseren Pflanzen dürfen auf das Grundstück des Nachbarn hinüberragen.
Ausserdem soll der Beklagte dem Kläger jedes Jahr eine Gebühr von 200 Franken an die Reinigung der Strasse bezahlen. Die Gerichtskosten von 600 Franken sollten halbiert werden. Nach einigen Diskussionen nehmen die Nachbarn den Vorschlag des Richters an.
Nachbarschaftsstreit: Richter haben grossen Ermessensspielraum
Das Gesetz verbietet es Hausbesitzern, die Nachbargrundstücke übermässig mit lästigen Einwirkungen wie Gestank, Staub, Lärm, Laub oder Blüten von Bäumen zu belasten. Als Massstab für eine übermässige Immission gilt gemäss Bundesgericht «das Empfinden eines Durchschnittsmenschen in der gleichen Situation». Die Lage und Beschaffenheit der Grundstücke sowie die Dauer der Belästigung sind zu berücksichtigen. Einen Einfluss auf den Entscheid können auch die jeweiligen örtlichen Gepflogenheiten haben. Entsprechend verfügen die Gerichte über einen grossen Ermessensspielraum.