Eigentlich sollten seit Dezember zwischen St. Gallen und Genf die ersten neuen SBB-Doppelstockzüge verkehren. Vor vier Jahren hatten die SBB 59 neue Zugkompositionen bestellt. Nun zeigt sich: Bei der Konstruktion der 436 Waggons kommt es zu massiven Verzögerungen. Hersteller Bombardier und die SBB schieben sich gegenseitig die Schuld dafür zu.

Die neuen Züge sollen dank spezieller Neigetechnik schneller fahren können. Doch die neue Technik ist kaum erprobt. Sie stellt deshalb ein Betriebsrisiko dar. Die Ingenieure, die dieses Risiko beurteilen könnten, hätten bei den SBB immer weniger zu sagen, kritisiert Bahnexperte Hans Wägli: «Bei den SBB gibt es eine massive Entmachtung des Fachwissens. Die Rollmaterialbestellungen werden nicht mehr von Ingenieuren mit Fahrdienstpraxis verantwortet, sondern von Wirtschaftswissenschaftern und Juristen.» 

Wägli ist Autor des Werks «Schienennetz Schweiz» und arbeitete 40 Jahre lang bei den SBB. Für die Ausschreibung von Rollmaterial brauche es Fachwissen, so Wägli. Sonst seien nachträgliche Änderungen mit Mehrkosten und Verspätungen programmiert. Laut dem Hersteller Bombardier verzögerten tatsächlich viele Änderungswünsche der SBB die Fertigung der neuen Kompositionen. Die SBB verneinen dies. 

Wie heikel Rollmaterialbeschaffungen sind, weiss auch der ehemalige SBB-Generaldirektor Benedikt Weibel: «Ich bin heute der Meinung, dass wir in der Rollmaterialpolitik die grössten Fehler gemacht haben.» Weibel war zwischen 1993 und 2006 SBB-Chef. Er hat unter anderem die zweite Generation der Zürcher S-Bahn-Züge von Siemens beschafft oder den Cisalpino-Nachfolger, den Neigezug ETR610. «Aus heutiger Sicht würde ich mehr auf Robustheit und möglichst grosse Serien setzen», sagt Weibel. Indirekt kritisiert er auch die neue Neigetechnik der bestellten Doppelstockzüge: Man müsse auf erprobte Komponenten setzen. «Und heute ist klar: die Neigetechnik, die in den Neunzigerjahren propagiert wurde, wird weltweit nur sehr punktuell eingesetzt.» Die SBB sagen dazu nur, man setze alles daran, ein «verlässliches» und «komfortables Angebot» sicherzustellen.

Selbstkritisch vermerkt Weibel, es sei ein Fehler gewesen, dass er nur 61 S-Bahn-Züge bei Siemens bestellt habe. Denn je mehr gleiche Kompositionen verkehren, desto günstiger ist der Unterhalt. 

«Die einzige Bahn in Europa, die das Konzept der grossen Serien und der Priorität der Robustheit konsequent angewendet hat, ist die französische SNCF im TGV-Verkehr», sagt Weibel. 

Laut Hans Wägli lernen die heutigen SBB-Manager «kaum aus den Fehlern der Vergangenheit». Das verdeutliche auch das unausgereifte Starbucks-Konzept. Ihn erinnere das stark an den gescheiterten Versuch mit zwei McDonald’s-Speisewagen in den 90er-Jahren. 

Wäglis Fazit: «Offenbar hat jede Generation von Bahnmanagern das Recht, dieselben Fehler nochmals zu machen.»