Nicole H. war verzweifelt. Seit Tagen schlief sie kaum, Medikamente halfen nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, je wieder zu unterrichten. Die Primarlehrerin aus dem Berner Oberland litt an schweren Depressionen und war seit zweieinhalb Jahren krankgeschrieben. Sie freute sich, dass ihr die Invalidenversicherung (IV) eine anderthalbjährige Umschulung zur «Genesungsbegleiterin» bewilligte. Jetzt begleitet sie Menschen mit psychischen Krisen.
Die IV finanzierte im Jahr 2017 fast 41 000 Verunfallten oder chronisch Kranken eine Eingliederungsmassnahme – etwa eine Erstausbildung oder ein Job-Coaching. Sie gab dafür 1,7 Milliarden Franken aus. Der Haken: Die IV weiss nicht, ob die Geförderten nachher effektiv auf dem Arbeitsmarkt integriert sind.
Psychisch Erkrankte profitieren wenig
Eine Studie im Auftrag der IV bringt nun etwas Licht ins Dunkel. Forscher um den Eingliederungsexperten Niklas Baer von der Psychiatrie Baselland befragten 921 Betroffene. Je rund ein Drittel der Befragten leidet an einer Muskel- oder Skeletterkrankung, hat psychische Beschwerden oder beides.
80 Prozent gingen laut der Studie «optimistisch» in die Massnahme, aber nur jedem Dritten brachte sie «Erfolg». Das heisst: Sie verdienten danach mindestens 1000 Franken im Monat und bezogen weder Arbeitslosengelder noch eine IV-Rente. Die Forscher hatten ursprünglich einen Monatslohn von 3000 Franken als Massstab für den Erfolg definiert. So viel verdienten aber nur wenige.
Von der IV-Massnahme profitierte fast jeder zweite Teilnehmer mit körperlichen Handicaps, aber nur jeder Vierte mit einer psychischen Erkrankung. Der Eingliederungserfolg ist laut Studie umso wahrscheinlicher, je geringer behindert ein Teilnehmer ist. Laut der Studie waren aber die meisten Teilnehmer stark behindert. 60 Prozent der befragten Teilnehmer fühlten sich durch ihre IV-Berater «kompetent» und engagiert beraten.
30 Prozent fühlen sich «unter Druck gesetzt»
Nicole H. lobt ihren Job-Coach: «Er hörte gut zu und wusste, was ich konnte und brauchte.» Ein 61-jähriger Innerschweizer, bei dem die IV frühzeitig intervenierte, fühlte sich von seinem Berater «stets ernst genommen». Auch eine 26-jährige Taggeld-Bezügerin aus Basel erlebt ihren IV-Berater als «verständnisvoll und interessiert». Andererseits überfordern die Massnahmen viele: 30 Prozent der Befragten berichten, dass sie ihnen nicht nur nichts genützt, sondern gesundheitlich geschadet hätten. 30 Prozent sahen sich «unter Druck gesetzt».
«Meine Depressionen sind nicht so gut messbar wie eine Körperbehinderung», sagt Nicole H. Die 44-Jährige erlebte viele Abklärungen als «beschämend». Zum Beispiel musste sie ihre Leidensgeschichte Gutachtern erzählen, die dann ein negatives Urteil fällten. Sie erhob Einspruch gegen ein Gutachten, das ihrer Ansicht nach fehlerhaft war. Seit fünf Jahren wartet die alleinerziehende Mutter auf den Rentenbescheid der IV. Finanziell hält sie sich mit ihrem neuen 50-Prozent-Job als «Genesungsbegleiterin» im Berner Oberland über Wasser.
Auch Marie Baumann vom IV-kritischen Blog Ivinfo kritisiert, dass die «Eingliederung nicht gut funktioniert und selbst stark Beeinträchtigte nicht mal mehr eine Rente bekommen».
Experte Niklas Baer fordert Nachbesserungen: «IV-Massnahmen bringen umso mehr, je individueller sie auf die Betroffenen zugeschnitten sind.» Die Berater müssten die Biografie und Bedürfnisse der Teilnehmer genauer abklären. Viele Versicherte zögerten die Anmeldung bei der IV zu lange hinaus: Frühinterventionen sind laut der Studie jedoch erfolgreicher als Integrationsversuche nach einem Jobverlust. Wichtig ist für Baer, die Ärzte und Psychiater besser in die Eingliederungsbemühungen der IV einzubinden.
Nicole H. schätzte die Gespräche mit Job-Coach und Arzt: «Wir konnten viele Probleme einfach lösen.»