Viele Krebskranke erhalten eine Chemotherapie in einer so hohen Dosis, dass ihnen die Nebenwirkungen schwer zu schaffen machen. Dabei könnten die Ärzte oft auch kleinere Mengen der Krebsmittel geben – mit derselben positiven Wirkung, aber weniger Nebenwirkungen. Das belegen mehrere Praxisstudien. Drei Beispiele:

  • Patienten mit Darmkrebs und Lebermetastasen erhalten oft auch nach dem Ende der Chemotherapie weiterhin Avastin. Eine Studie der von Spitälern getragenen Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für klinische Krebsforschung zeigte vor einem Jahr, dass das ­Roche-Medikament das Fortschreiten der Krankheit nur um durchschnittlich fünf Wochen verzögert. Den Zeitgewinn erkauften Patienten mit schweren Nebenwirkungen. Die Krankenkassen kostete die Behandlung im Schnitt 37 600 Franken extra. Das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic hat die Vorschriften zur Verschreibung von Avastin bis heute nicht angepasst. Roche sieht keinen Grund zu einer Änderung. Das Medikament habe einen therapeutischen Nutzen.
  • Das Roche-Medikament Xeloda kommt vor allem bei Chemotherapien gegen Darm- und Brustkrebs zum Einsatz. Gemäss der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung zeigen mehrere Studien, dass für viele Patienten eine gegenüber den Swissmedic-Richtlinien um ein Fünftel reduzierte Anfangsdosis des Medikaments ausreicht. 
  • Für viele Patientinnen mit Brust- oder Eierstockkrebs ist laut neueren Studien die vorgeschriebene Einstiegsdosis des Krebsmittels Caelyx zu hoch. Eine tiefere Dosis zeigt laut der Arbeitsgemeinschaft für klinische Krebsforschung eine vergleichbare Wirkung und ist verträglicher. Hersteller Janssen-Cilag schiebt den schwarzen Peter den Ärzten zu. Sie sollten neue Erkenntnisse bei der individuellen Dosierung berücksichtigen.

Doch das ist schwierig. Ein Arzt kann Patienten nicht einfach weniger Avastin, Caelyx oder Xeloda verschreiben. Er muss laut Gesetz ein Medikament genau so verabreichen, wie es Swissmedic in der Fachinformation vorschreibt. Die Vorgaben formulierte die Behörde auf der Basis der Studien, die der Hersteller beim Zulassungsantrag für sein Medikament einreichte. Nicht selten sind jedoch Ergebnisse von Studien zum Vorteil der Firmen manipuliert. Vier von fünf Studien zahlen die Firmen selber (saldo 1/10 und 12/10). 

Unglaublich: Allein der Hersteller hat das Recht, bei Swissmedic eine Änderung der Anwendungsvorschriften für sein Medikament zu beantragen (siehe Kasten). Für Peter Brauchli, Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für klinische Krebsforschung, ist das ein Fehler: «Die Hersteller haben kein Interesse an niedrigeren Dosierungen.» Viele Unternehmen ignorieren neue wissenschaft­liche Erkenntnisse, die ­ihren Umsatz schmälern könnten. Die Leidtragenden sind die Patienten: Befolgt ihr Arzt die amtlichen Vorgaben, dosiert er gewisse Medikamente stärker als nötig. Er setzt seine Patienten damit dem Risiko von mehr Nebenwirkungen aus. 

Zudem belasten Überdosierungen die Prämienzahler. Krebsmittel kosteten in der Grundversicherung laut ­einer Studie der Helsana im Jahr 2012 bereits 480 Millionen Franken – weit mehr als das Doppelte als im Jahr 2007. Reduziert der Arzt die Dosis, handelt es sich um einen sogenannten Off-Label-Einsatz, eine Verschreibung ausserhalb der vorgesehenen Anwendungen. Die Krankenkasse ist dann nicht mehr gesetzlich verpflichtet, die Behandlung zu zahlen. 

Krankenkassen wollen Mitsprache von Ärzten, Forschern, Patienten 

Gemäss Erika Ziltener vom Dachverband Schwei­zerischer Patientenstellen kommt es «immer wieder vor, dass Kassen die Kostenübernahme von Chemo­therapien im Off-­Label-Gebrauch ableh­nen». Andreas Schiesser vom Krankenkassenverband Santésuisse fordert, dass auch die Patientenorganisationen, Krankenkassen, Forscher und Ärzteverbände künftig Anpassungen bei den Swissmedic-Vorschriften zur Medikamentenabgabe beantragen dürfen: «So lässt sich die Anwendung der Medikamente verbessern.» Ein erweitertes Antragsrecht verlangt auch SP-Nationalrat Jean-François Steiert (siehe Interview). 

Roche lehnt das ab: Ein Antragsrecht für andere Gruppen verwässere die Verantwortlichkeit des Unternehmens und seine Patentrechte.

Swissmedic: Zulassungsbehörde am Gängelband der Hersteller

Nur die Pharmahersteller selbst können gemäss Gesetz bei Swissmedic die Zulassung eines Medikaments beantragen. Das führt zu Belastungen von Patienten und Versicherten. 

  • Ärzte spritzten bei Knie­arthrosen in der Regel Präparate wie Synvisc, Ostenil oder Sinovial. Sie enthalten Hyaluronsäure. Eine Schweizer ­Studie aus dem Jahr 2007 zeigte, dass die ­Spritzen wenig bringen. Die Fachgesellschaft für Orthopädie passte ihre ärztlichen Richtlinien an. Swissmedic hat die Anwendungs­vorschriften nicht geändert. 
  • Das Novartis-Medikament Lucentis ist gegen die altersbedingte Netzhaut­degeneration zugelassen. Studien zeigen, dass das Roche-Präparat Avastin ähnlich gut wie Lucentis wirkt. Lucentis ist aber bis zu 40-mal teurer. Der Haken: Roche hat ihr ­Präparat Avastin bisher nicht bei Swissmedic zur Behandlung der Augenkrankheit registrieren lassen. Roche rechtfertigt dies damit, dass Avastin als Augen­mittel «keine medizinischen ­Vorteile für Patienten im Vergleich zu zugelassenen Medikamenten bietet». Das französische Parlament liess sich das nicht länger gefallen: Im Sommer erlaubte es den Ärzten, das zu diesem Zweck nicht zugelassene Avastin auch gegen die Augenkrankheit zu verschreiben. Erwartete Kostenersparnis: 240 Millionen Franken im Jahr.

Interview: «Wir müssen Patienten besser schützen»

Jean-François Steiert, Nationalrat aus Freiburg, fordert ein Antragsrecht bei der Medikamentenzulassung auch für Patienten und Versicherte.

saldo: Weshalb unter-nimmt das Parlament nichts gegen den ­amtlichen Zwang zur Überdosierung gewisser Medikamente?

Steiert: Zusammen mit anderen Parlamentariern brachte ich die Forderung nach einem erweiterten Antragsrecht in die Diskussionen zum neuen Heilmittelgesetz ein. Es zeigte sich jedoch: Im Parlament gibt es hierfür keine Mehrheit.

Warum nicht?

Vertreter der Pharma­branche haben kein Interesse daran. Und verschiedene bürgerliche Kollegen lehnen die Forderung als Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit ab. Das Problem ist zudem, dass die parlamentarischen Verhandlungen zum Heilmittelgesetz sehr kompliziert sind und man keinen neuen und zielführenden Vorstoss zu einem laufenden Gesetzesverfahren einreichen kann. 

Dann wird sich also am Problem ­nichts ­ ­ändern?

Ich hoffe doch. Sobald das Heilmittel­gesetz im Parlament durch ist, werde ich eine entsprechende Motion einbringen. Sie ist fertig redigiert. Wir müssen Patienten besser schützen und unnötige Medikamentenausgaben zulasten der Versicherten reduzieren.