Aktuell fehlen in der Schweiz neun Impf­stoffe, darunter das Präparat Poliorix gegen Kinder­lähmung oder der Tollwutimpfstoff Merieux. Das geht aus der Homepage des Bundesamts für wirtschaftliche Landes­versorgung hervor. Im vergangenen Jahr fehlten in der Schweiz vorübergehend 20 Impfstoffe. Im Jahr zuvor waren es 15. Grund: Nur vier Kon­zerne dominieren ­heute den welt­weiten Impfstoffmarkt ­(siehe Kasten). Wird ein Impfstoff weltweit knapp, springt kein Konkurrent mehr ein. 

Die vier Hersteller wollen oder können viele Präparate zudem oft nicht in die Schweiz liefern, weil sie Lieferverträge mit anderen Ländern haben (saldo 2/2019). Und in der Schweiz gibt es keinen Produzenten mehr, für den die Schweiz Vorrang hat. Darunter leiden aktuell auch die Forscher, die etwa in Basel, Bern oder Zürich nach einem neuen Impfstoff gegen das Coronavirus suchen. Sie erhalten keine Unterstützung von hiesigen Impfstofffirmen.  

Das müsste nicht sein. Bis vor wenigen Jahren produzierte noch ein weltweit renommiertes Unternehmen in der Schweiz Impfstoffe: Die Berna Biotech AG, die bis 2001 Schweizerisches Serum- und Impfinstitut hiess. Apotheker und Ärzte hatten das Unternehmen 1898 in Thörishaus BE gegründet. Die Firma entwickelte und produzierte Impfstoffe etwa gegen Cholera, Typhus, Pocken, Polio, Diph­therie, Hirnhautentzündung, He­pa­titis oder Grippe. Sie verkaufte ihre Impfdosen weltweit. 

Berna war auch eines der wenigen Unternehmen, das Impfstoffe gegen Sars herstellte. Die virale Lungenkrankheit verbreitete sich ab dem Winter 2002 von China aus.

Am Verschwinden der Schweizer Firma trägt der Bund eine Mitschuld. Denn der Bundesrat schrieb im Jahr 2005 einen Auftrag für 100 000 Dosen eines Impfstoffes gegen Erreger der Vogelgrippe H5N1 aus. Berna bewarb sich für den Auftrag. Laut dem früheren Berna-Manager Simon Rothen bot die Firma an, «eine Produktionsanlage in der Schweiz für virale Impfstoffe für die Pandemieversorgung auszubauen». 

Für den Ausbau sollte der Bund 12 Millionen Franken investieren. Die damalige Nationalrätin Bea Heim (SP) erinnert sich, dass sie mit Dutzenden Nationalräten aus allen Parteien den Bund aufforderte, Berna den Zuschlag zu geben: «Unser Ziel war, die inländischen Liefer­kapazitäten aufrechtzuerhalten.» 

Doch der Bundesrat befürchtete weitere Kosten und Lieferprobleme. Er kaufte die Impfstoffe lieber im ­Ausland ein – und liess die wirtschaftlich angeschlagene Berna AG im Regen stehen. 

Ein wenig später, Anfang 2006, kaufte die viel kleinere holländische Firma Crucell die Berna AG. Der neue Besitzer baute 60 der 410 Stellen im Kanton Bern ab, stiess Firmenteile ab und verlegte die Forschungs- und Entwicklungsabteilung in die Niederlande. Crucell wurde im Jahr 2011 vom US-amerikanische Konzern Johnson & Johnson ­geschluckt. 

Nur zwei Firmenteile von Berna Biotech existieren noch

Bis heute haben nur zwei Firmen­teile überlebt: Janssen Vaccines, eine ­Tochter von Johnson & Johnson, lässt in Bern-Bümpliz rund 250 Mitar­beiter an neuen Impfstoffen etwa gegen ­Ebola, Grippe und E. coli forschen. Und das amerikanische Unternehmen Emergent Biosolu­tion produziert im bernischen Thörishaus Impfstoffe­ gegen Typhus und Cholera für den Weltmarkt. 

Die ehemalige Nationalrätin Bea Heim wirft dem Bund heute vor, bei Berna «eine Chance verpasst» zu haben. ­Dadurch sei wichtiges Knowhow ­verloren gegangen. Die Schweiz sei seitdem auf ausländische Hersteller angewiesen und verletzlich. Anfang März stoppte zum Beispiel Indien den Export von 26 wichtigen Wirkstoffen und Arzneimitteln, um die eigene Versorgung zu sichern. 

Der Wiler Arzt und Herausgeber des Fachmagazins «Infomed», Etzel Gysling, befürwortet den Aufbau ­einer eigenen Impfstoffproduktion, um Engpässe in der Schweiz zu ver­hindern. 

Auch Marcel Tanner, Präsident der Akademien der Wissenschaften und ehemaliger Direktor des Schweizer Tro­peninstituts, sagt im Interview (siehe Kasten), dass die Schweiz eigene Produktionskapazitäten für wichtige Impfstoffe und Medikamente brauche, um nicht «völlig abhängig von Importen und komplizierten Lieferketten» zu sein.