saldo: Herr Häne, Züge fallen aus, es hat zu wenig Sitzplätze – haben die SBB die Lage noch im Griff?
Toni Häne: Unsere Angestellten setzen sich mit viel Berufsstolz dafür ein, dass wir die Bahn im Griff behalten. Jeden Tag sind über 7000 Personenzüge unterwegs. Davon fallen vielleicht einzelne aus, aber nicht Hunderte. Ich wehre mich gegen dieses SBB-Bashing, das jetzt zum Teil betrieben wird. Bei uns ist nicht auf einmal alles schlecht. Schon als ich vor 48 Jahren meine Lehre bei den SBB begann, gab es unpünktliche Züge und Ausfälle. Einen Bahnbetrieb ohne Störungen gibt es leider nicht.
Wie wollen Sie den Service verbessern?
Wir brauchen wieder mehr Puffer im täglichen Betrieb. Es nützt nichts, einen Fahrplan zu haben, der nur am Sonntagnachmittag fahrbar ist. Heute ist das Kursbuch über fünfmal so dick wie damals, als ich anfing. Doch die meisten Bahnhöfe haben nicht mehr Gleise. Das System ist wirklich am Anschlag.
Sie sprechen von mehr Puffer. Müssen die SBB-Kunden mit längeren Fahrzeiten rechnen?
Es geht nicht nur darum, im Fahrplan die Fahrzeiten zu verlängern. Auf einigen Strecken können wir manchmal einige zusätzliche Minuten herausschlagen, wenn wir schneller fahren oder eine Haltestelle auslassen. Heute arbeiten viele Menschen im Zug. Sie möchten vor allem nicht umsteigen müssen, weil das für sie einen Arbeitsunterbruch bedeutet. Ob die Fahrt eine Minute oder zwei länger dauert, ist weniger wichtig. Und viele ältere Leute sind froh, wenn sich die Zeiten fürs Umsteigen an den Bahnhöfen verlängern. Die Züge sind heute sehr lang.
Werden bald wieder alle Bahnreisenden einen Sitzplatz haben?
Wir sind am Limit. Für über 400 Meter lange Züge sind die Perrons zu kurz, und mehr als zwei Stockwerke gehen auch nicht. Leider kann ich auch nicht beliebig viele Züge einsetzen. Der Gotthard-Tunnel wurde eigentlich für den Güterverkehr gebaut. Ich habe pro Richtung und Stunde einen bis zwei Züge zur Verfügung, dann kommen wieder vier Güterzüge. Das will ich ändern: Ich möchte zu den Spitzenzeiten am Morgen mehr Personenzüge fahren lassen, dafür den Tag hindurch etwas mehr Güterzüge.
Müssen wir uns damit abfinden, dass es heisst: «Zug überfüllt, bitte aussteigen»?
Das betrifft gewisse Spitzentage am Gotthard, an denen alle in den Süden reisen wollen. Dann kommt die Bahn genauso an ihre Grenze wie die Strasse. Bei der Sicherheit machen wir keine Kompromisse. Die Züge dürfen nicht überfüllt durch den Tunnel fahren.
Sagen Sie uns: Wann muss niemand mehr aussteigen?
Von mehr Zügen am Morgen erhoffe ich mir eine Entlastung. Aber so eine Umstellung lässt sich nicht innert zwei Wochen machen. Da müssen wir mit der Güterverkehrsbranche eine Lösung finden. Auch die Pünktlichkeit kann ich nicht so schnell erhöhen.
Nicht in zwei Wochen, sondern bis wann?
Gewisse Verbesserungen sind kurzfristig machbar. Ab Dezember geben wir dem Personal in den Leitstellen mehr Freiheit. So wird es möglich, dass ein Intercity-Zug einen anderen überholen kann, wenn der verspätet ist. Heute muss zum Beispiel der Intercity von Kandersteg nach Bern in Spiez warten, wenn der Zug von Interlaken zu spät ist. Und: Die Baustellen auf den Bahnstrecken müssen wieder pünktlich freigegeben werden.
Das sind kleine Massnahmen. Wieso investieren Sie nicht in mehr Züge? Die SBB machen Jahr für Jahr Riesengewinne.
Wir investieren enorm viel. Ich habe offene Zugbestellungen über mehrere Milliarden Franken. Von den neuen Doppelstöckern sind noch 38 Stück ausstehend. Hier rechne ich mit einer Verbesserung der Situation in rund anderthalb Jahren. Zu den Gewinnen: Ich möchte betonen, dass kein Geld -abfliesst und an irgendwen ausgeschüttet wird. Das Geld bleibt bei der Bahn.
Haben die SBB am falschen Ort gespart? Bähnler sagen uns: Die SBB verfügen über genügend Lokführer. Aber: Die Leute werden heute falsch ausgebildet. Früher konnten sie alle Loks fahren, heute nur noch bestimmte Typen. Weil man die Ausbildung verkürzt hat, um zu sparen.
Ja, dieses Problem besteht. Man hat die Lokomotivführer kategorisiert und dabei zu wenig an die Flexibilität gedacht, die es im Betrieb braucht. Fällt heute ein Lokführer aus, haben wir ein Problem. Wir können nur die Kollegen aufbieten, die die richtige Lizenz haben.
Machen Sie das jetzt rückgängig?
Das prüfen wir. Es braucht wieder mehr Flexibilität. Lokführer sollten wieder mehr Lokomotiven kennen und auch mehr Strecken. Wir stocken auch wieder auf. Es muss uns gelingen, wieder mehr Leute zu motivieren, Lokführer zu lernen. Zum Teil haben wir darum bei den Löhnen nachgebessert.
Wer bekommt mehr Lohn?
Zum Beispiel Neueinsteiger, die etwas älter sind und Kinder haben. Denen können wir keinen normalen Einstiegslohn anbieten. Aber solche Anpassungen sind heikel. Das Lohnsystem muss gerecht sein.
Ein Tipp: Die Kundenzufriedenheit könnten Sie mit wenig Geld verbessern, wenn Sie die Züge und WCs wieder häufiger putzen liessen. Andere Bahnen wie BLS, Südostbahn oder die Rhätische Bahn sind viel sauberer.
Da sind wir dran. Wir lassen an den Endbahnhöfen wieder mehr putzen und auch unterwegs. Der Unterhalt der modernen Toiletten kostet 10 Millionen Franken pro Jahr. Ein zweiter Ansatzpunkt: Wir möchten prüfen, ob Kunden mit einem GA oder Halbtaxabo die WCs an den Bahnhöfen gratis benutzen könnten. Das würde die Zugtoiletten entlasten.
Viele ärgert es, dass sie günstige Sparbillette weder am Schalter noch an den Automaten kaufen können. Warum gibt es sie nur im Internet? Sollen Kunden ohne Computer oder Handy draufzahlen?
Wir möchten möglichst viele Sparbillette verkaufen, weil dann mehr Leute ausserhalb der Stosszeiten fahren. Diese Lenkwirkung erreichen wir, der Absatz von Sparbilletten ist sehr hoch. Das zeigt, dass der Kauf mit dem Handy oder dem PC nicht so kompliziert ist.
Jetzt haben Sie nicht gesagt, warum Sie am Schalter und am Automaten teurere Billette verkaufen.
Unsere Billettautomaten verfügen heute leider nicht über die geeignete Software für die Sparbillette. Ich wünsche mir, dass die nächste Generation von Automaten dafür gerüstet sein wird. Sicher ist das aber nicht. Was die Bahnschalter betrifft, müssen wir ehrlich gesagt auch auf die Kosten schauen. Das Handy ist ein günstiger Vertriebskanal. Wenn sich am Schalter jemand zehn Minuten beraten lässt für ein Billett, das Fr. 12.50 kostet, dann stimmt das Verhältnis von Aufwand und Ertrag für uns nicht.
Zur Person
Toni Häne ist seit 2018 Leiter Personenverkehr bei den SBB und Mitglied der Konzernleitung. Damit ist er im Unternehmen die Nummer zwei hinter dem abtretenden Andreas Meyer. Der 64-jährige Häne arbeitete sein ganzes Leben für die SBB. 1971 trat der Rheintaler eine Bähnlerlehre in Au SG an. Ab 1992 leitete er verschiedene Geschäftsbereiche des Personenverkehrs wie den Vertrieb und das Verkehrsmanagement. 2014 übernahm er die Leitung des Fernverkehrs, 2016 kam der Regionalverkehr dazu. Häne wohnt in Moosseedorf BE, ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.