Die Passagiere der S12 zwischen Winterthur und Brugg AG erleben seit ein paar ­Wochen ein Kontrastprogramm: Teils fahren sie mit S-Bahn-Wagen der ersten Generation von 1990, teils mit den nagelneuen Dosto-Wagen. Dosto steht für Doppelstock.

Der Vergleich aus der Sicht der Reisenden fällt klar zugunsten der 20 Jahre alten Züge aus. Auffällig ist bei den neuen Zügen vor allem der grosse Stehplatzbereich, von den SBB schönfärberisch «Multifunktionsbereich» genannt. Bei der S-Bahn der ersten Generation umfasst die Stehplatzzone 39 Quadratmeter, bei den Dosto-Wagen schon 87.

Ausgehend von Zahlen der SBB und der Dosto-Herstellerin Stadler Rail sowie der Zuglänge während der Stosszeit (300 Meter) ist die Anzahl Stehplätze in den neuen Zügen um 45 Prozent grösser als in den alten. Dafür hat es fast 10 Prozent ­weniger Sitzplätze. Die Zeichen sind deutlich: Die Zugpassagiere sollen in den neuen Wagen vermehrt stehen.


Die Komforteinbusse in der 1. Klasse ist besonders gross

Aber auch die verbliebenen Sitzplätze im Dosto sind alles andere als komfortabel. Reisende bezeichnen sie als hart und unbequem. Besonders gross ist die Komforteinbusse in der 1. Klasse: Bei der Sitztiefe haben die SBB gemäss einer saldo-Messung gegenüber der ersten Generation sieben Zentimeter eingespart. Die Folge: Die Oberschenkel sind schlechter abgestützt, die Beine ermüden schneller. Beim Vergleichssitzen empfinden manche Fahrgäste die Sitze der 2. Klasse sogar als etwas bequemer.

Die neuen Züge werden auch weniger sauber sein: Die Abfallkübel fehlen bei den Sitzen in der 2. Klasse, und pro Zug gibt es nur noch vier Toiletten. Die vergleichbar langen Züge der ersten Generation besitzen sechs WCs.

Was die Passagiere der S12 schon heute erdulden, blüht bald auch den Fahrgästen auf den Regio-Express-Ver­bindungen. Die innen identischen Dosto-Züge verkehren ab Dezember 2012 auch zwischen Genf und Lausanne sowie Zürich und Schaffhausen. Ab Dezember 2013 folgen weitere Linien wie Bern–Olten oder Basel– Brugg–Zürich. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen Pendlerverkehr und über­regionalem Verkehr. Auch den länger reisenden Passagieren muten die SBB einen Stehplatz zu. Die Reisezeit von Basel nach Zürich beträgt 71 Minuten.

Die neuen Dosto-Züge sind nur ein Beispiel einer langen Entwicklung: Beim Komfort für die Fahrgäste sparen die SBB immer mehr. Umgekehrt bei den Preisen. Da bitten sie die Passagiere trotz Rekordgewinnen immer stärker zur Kasse. Trotz höherer Trassenpreise haben die SBB auch 2011 im Bereich Personenverkehr stolze 213,9 Millionen Franken Gewinn gemacht.

Die Fahrgäste haben nichts davon. Im Gegenteil: Die SBB muten ihnen ab ­Dezember 2012 eine durchschnittliche Preiserhöhung von 5,6 Prozent zu. Begründet wird dies von den SBB jedesmal wiederkehrend mit den steigenden Passagierzahlen. Nur: Die Transportkosten sinken mit jedem zusätzlichen Reisenden.

Seit 1990 haben die SBB die Preise für Einzelbillette um 50,6 Prozent, jene für das GA 2. und 1. Klasse um 55,8 respektive 69,8 Prozent erhöht. Die Teuerung betrug in dieser Zeitspanne lediglich 32,6 Prozent.


«Sitzkomfort, als ob man sich an einen Stein anlehnt»

Ein SBB-Stammgast und Branchenkenner bestätigt die These von saldo: Für immer höhere Ticketpreise wird den Kunden immer weniger geboten. Dazu liefert er einige Fakten und Beobachtungen:

  • Sitzplätze: Es gibt immer mehr Sitze auf der gleichen Fläche. Auch in der 1. Klasse sind in immer mehr Zügen vier statt drei Sitzplätze in der Breite angeordnet. Das lässt sich mit dem von 65 auf 70 Prozent erhöhten Aufpreis gegenüber der 2. Klasse kaum vereinbaren. Die abgetrennten Vorräume an den Wagenenden sind bei neuerem Rollmaterial nicht mehr vorhanden, was die Lärmimmissionen für die Passagiere erhöht und ein ungestörtes und für die Mitreisenden nicht störendes Telefonieren nicht erlaubt.
  • Sitzpolster: Der Sitzkomfort nimmt mit jeder neuen Wagengeneration ab. Bisher schlechtestes Beispiel sind gemäss dem Bahnfachmann die umgebauten Steuer­wagen der Domino-Regionalverkehrszüge. Sie gelangen in der Westschweiz, in den Kantonen Wallis und Aargau sowie für den Glarner Sprinter zum Einsatz. «Der Komfort auf einem Platz erster Klasse ist, als ob man auf einem Brett sitzt und sich an einen Stein anlehnt», stellt er fest. In neueren Wagen sparen die SBB auch, indem sie die Sitztiefe verringern.
  • Toiletten: Sie werden sukzessive abgebaut. In früheren Erstklasswagen gab es auf 42 Sitzplätze 2 Toiletten. Das Verhältnis beim aktuellen IC-Doppelstockwagen: 86 Sitzplätze auf 1 Toilette. Bei der Umrüstung von Plumpsklos auf geschlossene Toiletten hinken die SBB im internationalen Vergleich hintennach. In Frankreich wurden die TGV-Kompositionen seit 1979 mit geschlossenen WCs ausgerüstet. Die SBB kauften noch in den 1990er-Jahren Euro­citywagen mit Plumpsklos. Deren Umbau ist noch längst nicht abgeschlossen.
  • Wagenrevisionen: Die SBB unterscheiden vier Arten von Revisionen. Hauptrevisionen führen die SBB bei Personenwagen gemäss dem Branchenkenner nicht mehr durch. Früher waren sie – abhängig von der Kilometerleistung – zirka alle zehn Jahre fällig. Ein totalrevidierter Wagen wirkt wie neu. Aus Kostengründen muten die SBB jetzt den Fahrgästen jahrzehntelang dieselbe Ausstattung zu. Immerhin: Bei den sicherheitsrelevanten Revisionen wird dem Vernehmen nach nicht gespart.


Die SBB verweisen darauf, dass ihre Sitze «ergonomisch optimiert» seien und in den Personenwagen ständig Qualitätsverbesserungen vorgenommen würden wie Ausrüstung mit Steckdosen und WLAN oder der Einbau von Klimaanlagen.

Was die Zahl der Sitz­plätze anbelangt, hat SBB-Chef Andreas Meyer kürzlich in der «Sonntags-Zeitung» verkündet, dass es wegen der wachsenden Zahl der Passagiere nicht zu vermeiden sei, dass gelegentlich alle Sitzplätze belegt sind. Stehen bis zu einer Reisezeit von 20 Minuten hält er für die Kunden für «zumutbar».


Gleiche Preise für Stehplätze sind nicht gerechtfertigt

Kurt Schreiber, Präsident des Interessenverbands Pro Bahn Schweiz, fordert von den SBB, dass sie alles daran setzen, genügend Sitzplätze anzubieten. Ansonsten sei es nicht gerechtfertigt, bei den Stehplatzpassagieren trotz grosser Komforteinbusse denselben Fahrpreis zu verlangen. Auch den steigenden Zuschlag für Fahrten erster Klasse findet er angesichts des sinkenden Komforts bei gewissen Zugsgattungen wie Regio-Express, Regional- oder S-Bahn-Zügen nicht vertretbar.


Zuschläge für Billettkauf im Zug
: SBB in Europa einsame Spitze

Wer in einem begleiteten Interregio-Zug der SBB ein Billett kauft, zahlt seit Dezember 2011 zusätzlich zum regulären Fahrpreis einen Zuschlag von 90 Franken.

Ein Vergleich der «Neuen Zürcher Zeitung» zeigt, dass die SBB mit diesem Zuschlag in Europa einsame Spitze sind.

In Österreich und Belgien beläuft sich der Zu­schlag auf umgerechnet Fr. 3.60. In Frankreich sind es 12 Franken. In Norwegen fällt für den Kunden ein Zuschlag von Fr. 3.20 an, wenn er sein Billett im Zug kauft.


Initiative «pro service public»: Unterschreiben Sie!


Mit der Volksinitiative «Pro Service public» wollen saldo und ­der «K-Tipp» dafür sorgen, dass Bundes­betriebe wie SBB, Post und Swisscom nicht Gewinn erwirtschaften, sondern den Bürgern einen guten und bezahlbaren Service bieten. Unterschriftenbogen können Sie bestellen: «K-Tipp», «Pro Service public», Postfach 431, 8024 Zürich, oder Tel. 044 266 17 17.

Die Bogen lassen sich auch unter www.proservicepublic.ch herunterladen (in der rechten Spalte «Unterschriften­bogen» anklicken) und ausdrucken.

Wichtig: Auf einem Bogen dürfen sich nur Stimmberechtigte eintragen, die in derselben politischen Gemeinde stimmberechtigt sind.

Senden Sie auch nicht voll ausgefüllte Listen ein!