«Bei der NZZ ist es schon fast Pflicht, dass man nichts versteht»
Zeitungsleser sind bei der Lektüre der Tagespresse oft überfordert. Das bestätigt eine saldo-Umfrage. Häufigster Grund: Unnötige Fremdwörter.
Inhalt
saldo 10/2011
22.05.2011
Letzte Aktualisierung:
24.05.2011
Marc Mair-Noack, Sabine Rindlisbacher
Wer sich über Politik und Wirtschaft informieren will, stösst vor lauter Fach- und Fremdwörtern schnell an seine Grenzen. So hätten etwa die Kunden der Berner Regionalbank Valiant im Wirtschaftsteil des «Tages-Anzeigers» vom 11. Mai eine wichtige Nachricht erhalten: Ihre Bank sei unter dem «Dauerbeschuss von Hedgefonds».
Der Leser erfährt aber nicht, was solche Hedgefonds sind und wie weit sie die Bank gefährden. Die einfache E...
Wer sich über Politik und Wirtschaft informieren will, stösst vor lauter Fach- und Fremdwörtern schnell an seine Grenzen. So hätten etwa die Kunden der Berner Regionalbank Valiant im Wirtschaftsteil des «Tages-Anzeigers» vom 11. Mai eine wichtige Nachricht erhalten: Ihre Bank sei unter dem «Dauerbeschuss von Hedgefonds».
Der Leser erfährt aber nicht, was solche Hedgefonds sind und wie weit sie die Bank gefährden. Die einfache Erklärung, dass es sich dabei um besonders risikoreiche Aktienfonds handelt, hätte ihm sicher weitergeholfen.
Auch der Auslandteil der «Neuen Zürcher Zeitung» setzt Wissen voraus. Nicht, weil die Texte sehr kompliziert wären, sondern weil sie unnötige Fremdwörter enthalten: «Ecuadors Präsident hat sich beim am Samstag durchgeführten Plebiszit in allen Fragen durchgesetzt.»
Warum die Zeitung statt «Plebiszit» nicht das in der Schweiz gängige Wort «Volksabstimmung» verwendete, bleibt ihr Geheimnis. saldo konfrontierte 20 zufällig ausgewählte deutschsprachige Passanten zwischen 16 und 73 Jahren mit 20 Begriffen aus Texten von Tageszeitungen.
Das Fazit: Zwei Drittel der Fremdwörter waren für die Passanten unverständlich. Selbst wenn man ihnen zusätzlich den ganzen Satz mit dem entsprechenden Begriff aus der Zeitung vorlas, verstanden die meisten Befragten Bahnhof. Jeder Fünfte verstand kein einziges der vorgelesenen Wörter.
Neben Fachwörtern auch viele englische Begriffe
Solche Fremdwörter findet man nicht nur im Wirtschaftsteil für Börseninteressierte. Selbst in der Gratiszeitung «20 Minuten» steht: «Wegen der Katastrophen in Japan sind die Wechselkurse derzeit sehr volatil.»
Dies dürfte jeden interessieren, der mit ausländischen Währungen zu tun hat. Doch den Begriff «volatil» verstand die Mehrheit der Befragten nicht. Hätte der Journalist stattdessen von «schwankenden» Wechselkursen geschrieben, wäre die Aussage für jeden verständlich.
Auch trendige Begriffe wie «Start-ups» für Jungunternehmen haben sich bei den Lesern weniger durchgesetzt, als Journalisten meinen: 80 Prozent der Befragten wussten damit nichts anzufangen.
Ein anderes Beispiel: Die «Basler Zeitung» zitiert einen Grossaktionär des Pharmakonzerns Actelion: «Er sei überzeugt, dass mittel- und langfristig ein maximaler Shareholder-Value erzielt wird.» Das tönt erfreulich.
Aber nur, wenn man weiss, dass «Shareholder-Value» den Wert der Aktien bezeichnet. Auf der Strasse konnten sich 70 Prozent der Passanten keinen Reim auf den Begriff machen.
Ins gleiche Kapitel gehören andere englische Begriffe, mit denen Journalisten den Lesern imponieren wollen: «Wir haben in der Schweiz mit den beiden Grossbanken nicht nur ein ‹Too big to fail›-Problem», schreibt die «Zürichsee-Zeitung» wie viele andere Blätter auch.
Selbst wer die einzelnen Wörter versteht, kapiert den Sinn nicht: Die Grossbanken würden die ganze Volkswirtschaft in Bedrängnis bringen, wenn man sie nicht rettete. Sie sind finanziell viel zu mächtig – oder auf Deutsch: zu gross, um über sie den Konkurs eröffnen zu können.
Politische Themen: Viele Ausdrücke überfordern die Leser
Andere Begriffe sind für jüngere Leser alltäglich, für Ältere aber unverständlich. «In der Tat könnte bei Social Networks eine nächste Spekulationsblase entstehen», zitiert «20 Minuten Online» einen Aktienexperten der Credit Suisse.
Wer sich viel im Internet bewegt, weiss, dass mit «Social Networks» Gemeinschaftsplattformen wie Facebook gemeint sind, auf denen sich Nutzer vernetzen können.
Auch in Artikeln zur Politik denken Schreibende zu wenig an die Leser. So heisst es im «St. Galler Tagblatt» Ende April im Hinblick auf Appenzell Innerrhoden: «Welcher Kanton in der Schweiz kann es sich noch leisten, sein Parlament im Majorz zu wählen und damit in Kauf zu nehmen, dass die politische Meinung des Volkes nicht richtig im Parlament abgebildet ist?»
Diese Frage können höchstens Leser beantworten, die wissen, was ein Majorzsystem ist. Das waren in der saldo-Umfrage 10 Prozent. Laut «Sonntagszeitung» kam ein Marokkaner «zurück in ein Land, in dem der ‹arabische Frühling› noch jung ist».
Wer meint, dass in Marokko nun die Blumen spriessen, irrt. Mit dem «arabischen Frühling» sind die aktuellen Volksaufstände gemeint, die sich gegen die diktatorischen Machthaber im arabischen Raum richten. Auch diesen Ausdruck verstand die Hälfte der Befragten nicht.
Die Leserinnen und Leser wünschen sich einfachere Texte. Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass sie mehr Artikel lesen würden, wenn sie weniger Fremdwörter fänden – oder wenn diese erklärt würden. Eine 73-jährige ehemalige Sekretärin stellt fest: «Heute finde ich in der Zeitung mehr Fremdwörter als früher.»
Die NZZ gilt als schwerverständlicher Lesestoff
Die grösste sprachliche Herausforderung an die Leserschaft stellt die NZZ: Sechs der Befragten nannten die NZZ als Beispiel für schwerverständliche Sprache. Drei Befragte störten sich an den Fremdwörtern im «Tages-Anzeiger».
Vereinzelt nannten sie «Weltwoche», «Handelszeitung» und «Beobachter». Seinen Ärger treffend formuliert hat ein 53-jähriger Grafiker: «Es ist bei der NZZ schon fast Pflicht, dass man nichts versteht.»
Unverständliche Begriffe führen dazu, dass die Leser weiterblättern. Eine 52-jährige Lehrerin sagt: «Wenn ich ein Wort nicht verstehe, lese ich nicht mehr weiter.» Mit andern Worten: Die ausgiebig verwendeten Fachausdrücke und Fremdwörter verhindern, dass mehr Leute Artikel über politische und wirtschaftliche Themen lesen.
Das ist kein schlechtes Zeugnis für die Leser, sondern für die Journalisten: Ihre Aufgabe wäre es, Inhalte verständlich zu vermitteln. Wenn ein Leser nichts versteht, hat der Schreiber versagt.